Alexander Fufaev
Ich heiße Alexander FufaeV und hier schreibe ich über:

Neustart des Physikstudiums

September 2015. Jennys Mutter hatte es geschafft, mich wieder in einen Normalzustand zu bringen. Erstaunlicherweise antwortete sie mir nicht mehr, nachdem ich ihr sagte, dass ich mich nicht mehr deprimiert fühlte und bereit war, weiter zu studieren und nach meiner Seelenverwandten zu suchen.

Ich konnte zwar die letzten Vorlesungen vor den Semesterferien regelmäßig besuchen, doch fachlich verstand ich, insbesondere in theoretischer Physik, überhaupt nichts, da ich sehr viel verpasst hatte. Auch die Klausuren, für die ich mich angemeldet hatte, bestand ich nicht.

Tanzen mit Ann-Kathrin

25. September 2015. Ich war unterwegs zur letzten Vorlesung des Sommersemesters, als ich beschloss, der Liebe eine neue Chance zu geben. Kurz vor dem Haupteingang der Universität holte ich das Handy heraus und sah mir das heutige Horoskop an. Beruf eher nicht so. Gesundheit einigermaßen in Ordnung. Aber diese Kategorien waren nur nebensächlich, denn das wichtigste war für mich weiterhin das Liebeshoroskop. Es sollte mir eine Liebe, die durch tiefe seelische Verbindung charakterisiert war, prophezeien. Das war ja schließlich das, wonach ich suchte!

Im Tageshoroskop stand etwas, das mich dazu bewog, die Mathematikvorlesung zu schwänzen. Ich drehte mich also vor dem Haupteingang um und ging ins Stadtzentrum. Es musste – meiner Interpretation des Horoskops nach – ein mir noch fremdes Mädchen sein, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass Jana aus heiterem Himmel zu mir zurückkehren würde.

Durch die Stadt bummelnd und Kaffee schlürfend richtete ich nun meine ganze Aufmerksamkeit auf die weiblichen Passanten. Überall, wo ich hinguckte, sah ich Schönheiten. Aber, was bedeutete es schon, schön zu sein? Es gab Millionen Frauen auf der Welt, die schön waren. Blonde Haare, Ripped Jeans, weiße Sneaker, eine modische Tasche am Arm und das Handy in der Hand. Wahrscheinlich das neueste iPhone. Heiß, sehr heiß, aber nichts Außergewöhnliches, das mein Herz anziehen würde.

Meine Blicke wurden immer gelangweilter, bis ich für eine kurze Zeit stehen blieb. Ich musste mich zwischen dem Geradeausgehen oder dem Abbiegen entscheiden. Nach kurzem Starren auf meine Schuhe bog ich ab. Die Straßenseite war völlig leer, doch plötzlich überraschte mich ein Mädchen, welches rechts von mir aus einer Zahnarztpraxis herausspazierte. Ich blieb stehen und für eine kurze Zeit, als sie auf mich zukam, musste es für Außenstehende so wirken, als hätte ich auf sie gewartet.

Ann-Kathrin hatte glatte blonde Haare, dunkelblaue Augen und ein wunderschönes, makelloses Gesicht. Sie trug eine Brille, die ihr gutstand und sie schlau wirken ließ. Als sie mich dann noch anlächelte, bewog mich das sofort dazu, sie anzusprechen.

Nach kurzer Zeit waren wir so in ein Gespräch vertieft, dass ich gar nicht realisierte, dass wir schon am Bahnhof angekommen waren, wo sie hinwollte.

Sie wohnte in Hamburg und war die Tage in Hannover nur bei ihren Freunden zu Besuch. Nachdem sie ihre Nummer in mein Handy getippt hatte, umarmten wir uns und gingen unserer eigenen Wege. Nach dieser Begegnung konnte ich einfach nicht aufhören zu grinsen. Vor allem war ich von meiner extrovertierten Art überrascht – so gesprächig und offen war ich schon lange nicht mehr gewesen. Es war, als wäre ich eine ganz andere Person. Voller Freude und Motivation machte ich mich wieder auf den Weg in die Uni.

Gegen Abend lud ich sie ein, mit mir auszugehen. Trotz ihres anfänglichen Widerstands gingen wir in den Dax. Sie kam zusammen mit zwei Freundinnen mit dem Auto. Als wir im Dax waren, versuchte ich mich beim Tanzen zusammenzureißen, um sie nicht direkt abzuschrecken.

Nach einer Weile wollte ich mit ihr draußen kurz Luft schnappen, denn drinnen war es sehr heiß. Draußen dagegen war es kühl und beim Blick in den Himmel konnte man sogar ein paar Sterne erkennen. Ich konnte mich richtig gut mit ihr unterhalten, was selten war. Sie hatte eine tolle Ausstrahlung und konnte unglaublich gut zuhören und Fragen stellen. Nach einem kleinen Aufenthalt draußen gingen wir wieder rein. Bis vier Uhr morgens tanzten wir und alberten herum. Nach einer langen Abschiedsumarmung sagte sie mir, dass wir noch mal feiern gehen können, wenn sie in zwei Wochen wieder in Hannover wäre. Dann fuhr sie mit ihren Freundinnen weg.

Zwei Wochen später hatten wir uns am Hauptbahnhof um 23 Uhr verabredet und wollten in die Baggi. Ich wartete auf sie, bis die Uhr elf schlug. Als ich sie per WhatsApp, fragte, wo sie steckte, kam keine Antwort. Es vergingen fünf Minuten, zehn Minuten, zwanzig. Ich hatte noch keine Antwort. Gut, dachte ich mir, vielleicht kommt sie später nach. Also ging ich schon mal zum Club.

Als ich mich auf den Club zubewegte, sah ich, wie ein paar Leute in der Schlange standen. Ich reihte mich ein. Doch als ich vor den beiden Türstehern stand, wurde ich aufgehalten und nach dem Ausweis gefragt. Als ich zuletzt in der Baggi war, reichte immer ein kurzer Augenkontakt mit einem Lächeln aus, um reingelassen zu werden. Diesmal war es nicht so. Ich holte meinen Aufenthaltstitel aus der Hostentasche und hielt ihn einem Türsteher vor. Er nahm mir den aus der Hand und blickte fragwürdig darauf.

»Nein, du kommst hier nicht rein«, sagte er, ohne mich anzuschauen und reichte mir meinen Ausweis. Ich schaute kurz seinen Kollegen an, doch der drehte sich sofort um, als wollte er damit nichts zu tun haben.

»Warum nicht? Du hast mich damals immer reingelassen! Erinnerst du dich an mich?«

»Nein, heute nicht, geh woanders hin«.

Ich wusste, dass es nichts bringen würde, mit ihm zu diskutieren. Ich verstand dennoch nicht, warum er mich nicht reinließ. Ich war nüchtern und anständig mit einem Hemd, einer Jeans und weißen Turnschuhen angezogen. Ich hatte auch nie Ärger im Club gemacht, außer, dass ich mit meinem Tanzstil sehr auffiel.

Wütend drehte ich mich um und fuhr nach Hause. Ich war aufgebracht, sowohl wegen des Türstehers als auch wegen Ann-Kathrin, die weder erschienen war noch mir geantwortet hatte.

Sobald ich zu Hause ankam, zerriss ich den Zettel über meinem Tisch, wo als Ziel formuliert war, eine Seelenverwandte zu finden. Und dieses blöde Horoskop, das mein tägliches Handeln und meine Stimmung beeinflusste, hatte ich auch aus den Lesezeichen entfernt. Ich hatte es in dem Moment einfach satt, krampfhaft nach der Liebe meines Lebens zu suchen.

Mit dem Entschluss, mein Studium praktisch von vorne zu beginnen, schaltete ich in einen extrovertierten und geselligen Modus um. Ich initiierte eine Gruppe mit den neuen Studierenden, die im kommenden Semester starteten, und war fest entschlossen, die Einführungswoche dieses Mal keinesfalls zu versäumen. Wie sich später herausstellen wird, wird der Neustart ein voller Erfolg sein.

Der erste Tag der Einfühungswoche

5. Oktober 2015. Heute traf ich mich zum ersten Mal mit den Leuten, die ich für die Lerngruppe per Facebook organisiert hatte. Wir hatten uns vor dem Haupteingang der Uni verabredet und versperrten ihn unabsichtlich. Ich war etwas schweigsam, während David, Antonia und Laura sich unterhielten. Dann kam noch Wajahat hinzu.

Eine Gruppe von Studenten wollte an uns vorbei und wir mussten kurz zurückweichen.

»Seid ihr auch Physikstudenten?«, fragte uns ein Mädchen, das vor uns stehen blieb. Nachdem wir ihre Frage bejaht hatten, stellte sie sich als Jule vor und schloss sich uns an. Gemeinsam machten wir uns alle auf den Weg zum Hörsaal, wo die mathematische Einführungsveranstaltung stattfand. Als wir uns alle hingesetzt hatten, waren es noch knapp zehn Minuten bis zum Veranstaltungsbeginn. Also stützte ich den Kopf in die Hände und beobachtete, wie neue Studenten in den Hörsaal kamen und Plätze möglichst nah bei den anderen besetzten. Wahrscheinlich, um schnell neue Freunde zu finden. Natürlich ließ ich mich auch von den heißen Studentinnen ablenken, die den Hörsaal betraten. Eine Studentin kam mir besonders interessant vor. Sie war nicht nur schön, sondern sie schien mir auch irgendwie anders zu sein, weil sie sich etwas abseits von anderen hingesetzt hatte. Ich saß viele Reihen hinter ihr und konnte nur ihr langes, blondes Haar sehen. Während in den letzten Minuten vor Veranstaltungsbeginn alle noch quatschten, saß sie irgendwie allein da. Kluge Außenseiterfrauen zogen mich immer an. Auch, wenn ich den Drang verspürte, hatte ich nicht vor, sie anzusprechen, geschweige denn, ein Horoskop zu befragen, ob es sich doch gelohnt hätte. Ich hatte mir selbst versprochen, nicht mehr nach der Liebe zu suchen, also musste ich das auch unter allen Umständen einhalten.

Während des Mathematikkurses lösten wir, nach einigen Erklärungen des Tutors, Aufgaben.

»Was hast du herausbekommen?«, fragte mich Jule, die rechts neben mir saß.

»Ich muss noch etwas überlegen«, entgegnete ich ihr, um bloß nicht dumm zu wirken. Dabei kam ich beim Lösen der Aufgaben gar nicht weiter. Ich konnte die Aufgabe irgendwie nicht visualisieren. Und wenn ich mir eine Sache im Kopf nicht als Bild vorstellen konnte, dann verstand ich diese Sache meistens nicht. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb immer schwer, etwas auf Anhieb zu kapieren, weil ein Bild in meinem Kopf eben Zeit brauchte, um sich herauszukristallisieren.

Um Jule etwas von meiner Unwissenheit abzulenken, fragte ich sie nach ihrer Handynummer, um sie in unsere WhatsApp-Gruppe einzuladen. Dann rechneten wir weiter. Sie löste alle Aufgaben richtig. Als ich sie fragte, warum sie so gut war, erzählte sie mir, dass sie das schon in der Schule gut konnte. Sie hatte einen Notendurchschnitt von 1.0 im Abitur und begriff alles sehr schnell, ohne viel dafür tun zu müssen. Als der Kurs nach zwei Stunden zu Ende war, kamen die Tutoren aus höheren Semestern, um kleine Gruppen von ungefähr zehn Studenten zu bilden, mit denen man dann eine ganze Woche lang zu tun hatte. Die Tutoren verteilten sich vorne entlang der langen Tafel und forderten uns auf, mit kleinen Grüppchen zum gewünschten Tutor nach vorne zu gehen. Das erste Dutzend Studenten ging zu einem Tutor. Direkt danach das nächste Grüppchen. Mein Herz fing an zu rasen. In meinem Bauch breitete sich dieses Aufregungsgefühl aus, das kurz vor einem Vortrag entsteht, auf den man sich nicht vorbereitet hatte. Ich verspürte den starken Drang, mit dieser einsamen Studentin in eine Gruppe zu kommen. Jedoch wollte ich auch, dass die Leute aus meiner WhatsApp-Gruppe mit dabei waren.

»Die Nächsten, bitte«, forderte ein Tutor die nächste Gruppe auf, nach vorne zu kommen.

»Wollen wir?«, fragte uns Jule. Die anderen nickten und gingen sofort los. Ohne die Frage beantworten zu können, folgte ich ihnen enttäuscht. Doch dann - ein Wunder! Ich weiß nicht, wie es überhaupt möglich war, aber aus den vielen noch nicht zugewiesenen Studenten stand ausgerechnet sie aus den vorderen Reihen auf und kam mit in unsere Gruppe. So etwas ließ sich echt nur durch eine übernatürliche Kraft erklären…

Wir gingen anschließend ins Institut für Theoretische Physik, das etwas weiter von dem Hauptgebäude gelegen war. Dort setzten wir uns in einen recht dunklen, fensterlosen Raum, der sehr gut das Klischee eines Physikerraums erfüllte. Wir mussten uns kurz vorstellen und sagen, warum wir Physik studieren wollten. Jule stellte sich vor. Dann Niels, dann Claudia, die ich interessant fand und dann Jessica. Schließlich war ich an der Reihe.

»Ich heiße Alexander, komme ursprünglich aus Russland und ich habe die ersten beiden Semester nicht bestanden. Ich habe auch damals die Einführungsveranstaltung nicht besucht. Deshalb will ich es dieses Mal besser machen und mich einer Lerngruppe anschließen«, sagte ich, bevor ich erklärte: »Ich studiere Physik, weil ich wie Einstein die Welt voranbringen möchte. Mein Ziel ist es, den Physiknobelpreis zu erhalten.«

Die Tutoren, so schien es mir, reagierten überrascht. Sie mussten mich wohl für total verrückt halten. Zum Abschluss der Vorstellungsrunde spielten wir noch ein Spiel, dessen Regeln ich nicht richtig verstand, dies aber nicht äußerte, und mich deshalb etwas blamierte. Vielleicht hätte ich den Nobelpreis, in Anbetracht dieser Blamage, besser nicht erwähnen sollen. In diesem Moment war es jedenfalls leider schon zu spät.

Mit meiner Gruppe hatte ich dann eine Woche lang Mathematikkurse, Führungen durch verschiedene Institutionen der Universität und Kneipen. Am letzten Tag der Einführungswoche, während der sogenannten Rallye-Veranstaltung, ging es darum, in Gruppen Aufgaben zu lösen, die sich die Tutoren ausgedacht hatten, und dabei zu saufen. Je lächerlicher, verrückter oder kreativer man sich anstellte, desto mehr Punkte bekam die Gruppe. Verrückt war ich auf jeden Fall: Statt sich, wie alle anderen die von den Tutoren verteilten gelben Säcke zu einem Umhang, Kleid oder T-Shirt zu basteln, stülpte ich mir den Sack über den Kopf und ließ mein Gesicht von Claudia mit einem Lippenstift bemalen. Vielleicht hatte sie sogar Interesse an mir, denn was ist schon deutlicher als ein großes rotes Herz auf meiner Stirn?


Zukünftiges Learning aus dem gescheiterten Studiumstart: Wie ich später feststellen werde: Die Welt geht nicht unter, wenn ich einen Neustart des Studiums wage. Ein Neustart ist vergleichbar mit dem Zurückkehren an eine Weichenstelle und dem Einschlagen eines anderen Pfades oder aber des gleichen Pfades – allerdings dieses Mal mit der zusätzlichen Erfahrung im Gepäck.