Alexander Fufaev
Ich heiße Alexander FufaeV und hier schreibe ich über:

2004-2005: Leben mit Großeltern in Kharkovskiy, Oblast Rostow

Alexander Fufaev und seine Schwester vor dem Haus der Großeltern in Kharkovskiy

Wenn man aus Richtung Asow nach Kharkovskiy hineinfuhr, konnte man bereits von Weitem das markante längliche Haus erblicken. Mit seinen hellgrauen Dachpfannen, orangenen Ziegelsteinen und den sechs Fenstern mit ihren schwarzen Rahmen strahlte es eine gewisse Einzigartigkeit im gesamten Dorf aus. Ausgerichtet auf die kaum befahrene Landstraße und die weiten Felder dahinter, war es das erbaute Haus meiner Großeltern, Opa Yura und Oma Lina.

Es war in zwei Hälften aufgeteilt. Die beim Hineinfahren ins Dorf drei hinteren Fenster gehörten zu der Hälfte des Hauses, die nicht renoviert war. In dieser unbewohnten Hälfte befand sich ein Sammelsurium alten Krams: Irgendwelche Metallteile, Schrauben, Werkzeuge, hölzerne Kisten, ein paar unbenutzte Bienenkästen und jede Menge anderes Zeug. Die drei ersten Fenster des Hauses dagegen gehörten zur bewohnten Hälfte des Hauses. Dort wohnte ich die nächsten Jahre zusammen mit Mama, Dascha, Lina und Yura unter einem Dach.

Sobald man ins Haus hineinging, stand man im großen Eingangszimmer. Direkt links nach dem Eintreten, gelangte man zu einem sehr kleinen Zimmer mit einem Ofen, mit dem an den kalten Tagen Opa Yura mit Holz das Haus heizte. Zwei Schritte weiter war links eine zweite Tür, die zum Badezimmer führte, wo ein Haus-Plumpsklo für die kalten Wintertage bereitstand. Im Badezimmer war natürlich auch eine Badewanne, witzigerweise aber ohne Wasserhahn. Wozu auch, wenn es eh kein fließendes Wasser im Dorf gab? Das Wasser, das zum Teil von einem LKW gebracht wurde und zum Teil Regenwasser war, holten wir aus unserem Brunnen vor dem Haus. Es wurde für den Abwasch, zur Teezubereitung oder eben zum Baden benutzt. Oma Lina erhitzte für uns einen vollen Eimer, aus dem wir das Wasser mit einem großen Krug schöpften und in der Wanne stehend über uns gossen.

Wenn man aus dem Badezimmer kam, blickte man auf die Seite einer kleinen Schrankwand, an derem anderen Ende ein Röhrenfernseher stand. Im Eingangszimmer erstreckte sich auch ein langer aufklappbarer Tisch, an dem wir aßen. Zum Mittagessen kochte Oma Lina üblicherweise Borschtsch, Pelmeni, Manti, Tschebureki, Pfannkuchen oder russische Piroggen. Zum Frühstück wurden die Reste vom Mittagessen gegessen. Wenn man davon nicht satt wurde, konnte man Brot mit Wurst und Käse essen. Das Abendessen unterschied sich kaum vom Frühstück. Neben dem Esstisch und direkt an der Teppichwand stand ein Bett. Es diente sowohl als Sitzplatz beim Essen als auch als Opas Schlafplatz. Er schlief komischerweise nie mit Oma zusammen in einem Bett.

Von dem Eingangszimmer aus konnte man direkt in die Küche gelangen, in der Lina kochte und in einer kleinen Wanne abwusch. Obwohl dort ein großer weißer Tisch stand, aßen wir nie dort. In der Küche stand auch ein Gasherd, der mit einer großen Gasflasche betrieben wurde, denn im Dorf gab es keinen festen Gasanschluss. Wenn die Gasflasche zu einer ungünstigen Zeit leer wurde, dann benutzte Oma einen kleinen elektrischen Herd zum Kochen. Das Problem war nur, dass es im Dorf mindestens einmal in der Woche für ein paar Stunden, aus unerklärlichen Gründen, keinen Strom gab. Wenn abends plötzlich das Licht ausging, wurden einfach Kerzen angezündet. Dann musste das Essen verschoben werden oder es gab eben eine Alternative aus dem Kühlschrank, die schnell aufgegessen werden sollte, bevor sie schlecht wurde.

In der Mitte des Eingangszimmers, direkt neben dem Fernsehschrank, war ein breiter, türloser Durchgang zu einer Art kleinem Übergangszimmer. Dort stand eigentlich nur ein hoher, schmaler Schrank mit Büchern – sonst nichts. Von dem Zimmer aus konnte man sowohl rechts als auch links in ein Schlafzimmer gelangen. Im linken Schlafzimmer schlief ich manchmal mit Oma Lina und Dascha in einem großen Bett. Ich schlief aber auch mal im Wohnzimmer oder im Eingangszimmer, weil ich kein eigenes Zimmer hatte. Omas Schlafzimmer war das dunkelste Zimmer von allen, weil das dortige Fenster nicht nach draußen führte, sondern in die hinzugebaute Garage, in der das Auto von Opa stand.

Bog man im Übergangszimmer nach rechts ab, so gelangte man in ein helles Schlafzimmer, welches ursprünglich der Uroma gehörte. Das zweite Fenster des Hauses gehörte zu diesem Zimmer. Da sich das Fenster genau zwischen den beiden Kirschbäumen befand und es helle Tapeten mit rosa Blumen hatte, war es am Tag das hellste Zimmer von allen. Hier übernachtete Mama.

Wenn man im Übergangszimmer weder nach links noch nach rechts in die Schlafzimmer abbog, dann konnte man noch geradeaus ins Wohnzimmer gelangen. Es war eigentlich kein richtiges Wohnzimmer, da es im Winter überhaupt nicht bewohnbar war. Es war immer arschkalt dort und ein großer roter Teppich mitten im Raum war der einzige Schutz vor dem eisigen Boden. Im Zimmer stand eine große Schrankwand mit altem Geschirr aus Usbekistan, einem nicht funktionierenden Röhrenfernseher sowie Büchern bekannter russischer Schriftsteller, wie Tolstoi, Puschkin und Dostojewski. Auch ein Bett stand hier, in dem man nur im Sommer oder mit mindestens zehntausend Decken im Winter schlafen konnte. Es gab ein Klavier, an dem mir meine Mutter »My Heart Will Go On« aus Titanic beibrachte, und einen nicht funktionierenden Kamin, auf dem ein riesiger echter Elchschädel stand, den Onkel Sascha geschossen hatte.

Im Sommer war das Wohnzimmer der kühlste Raum von allen. Wenn es draußen zu heiß war, konnte man sich in diesem Zimmer abkühlen.

Manchmal lief eine graue Maus aus einem Schlitz in der Schrankwand nur um gleich darauf wieder dahinter zu verschwinden. Obwohl Opa Yura Mausefallen platzierte, die auch stets ein Tier zerquetschten, war dieser Kampf aussichtslos. Es kamen immer wieder welche vom Feld nach.

Aus dem Wohnzimmer konnte man in ein weiteres, letztes Zimmer gelangen. Auch wenn Opa hier manchmal übernachtete, war dieses Zimmer – abgesehen von dem dort stehenden Bett - eher ein Abstellraum, wie die andere Hälfte des Hauses. Dort standen beispielsweise Behälter mit Kerosin, das uns Oma immer in die Haare einrieb, wenn Dascha oder ich Läuse hatten. Es war einfach das beste Mittel gegen Läuse – nach einem Tag waren sie alle tot.

Durch das Fenster des Abstellzimmers blickte man in den großen Garten mit Apfelbäumen, Birnenbäumen, Aprikosenbäumen, Johannisbeer- und Heidelbeersträuchern. Dazwischen standen die besiedelten Bienenkästen und der braungebrannte Opa, der oberkörperfrei einen Bienenwabenrahmen in den Händen hielt und begutachtete. Am rechten Ende des Gartens blickte man auf ein kleines Lagerhaus, wo ein Teil der Ernte in Form von Sonnenblumenkernen oder Weizen gelagert wurde. Manchmal sortierte ich die Sonnenblumenkerne aus, um damit ein bisschen Taschengeld für Süßigkeiten zu verdienen. Für einen hundert Kilogramm schweren Sack sortierter Sonnenblumenkerne bekam ich von Onkel Sascha hundert Rubel. Das dauerte zwar ewig, dafür war ich danach aber steinreich. Garten der Großeltern hinter dem Haus, Russland

Aus dem Fenster des unbewohnten Zimmers sah man links am Ende des Gartens den Rasen auf dem die Hühner, Enten und Truthähne grasten. Opa ließ sie jeden Morgen bis zur Abenddämmerung ins Freie und auch ohne einen Zaun blieben sie immer im Hof. Auf dem Weg in Richtung der Scheunen wurde ich manchmal von einem draufgängerischen Hahn verfolgt. Um ihm zu entkommen, kletterte ich schnell auf einen Anhänger oder rannte ins Plumpsklohäuschen hinein und schloss hinter mir dir Tür zu. Manchmal schaute ich beim Abwarten ins Innere des Bodenlochs und stellte mir vor, wie tief man in dem braunen Zeug stecken würde, wenn man hineinfallen würde. Oder ich versuchte, einzelne Fäkalien zu identifizieren, die größtenteils schon zu einem homogenen Breihaufen verschmolzen waren. Dann blickte ich aus einem kleinen Loch in der hölzernen Wand des Klohäuschens nach draußen. Da der Hahn noch in der Nähe herumlungerte, hockte ich mich mit verschränkten Armen hin. Durch das Loch in der Wand drang das Sonnenlicht hinein und wurde von den schwebenden Staubteilchen zauberhaft reflektiert. Ich musste diese leuchtenden Teilchen in der Luft nur einen Moment lang anschauen, damit sie mich in einen hypnotischen Zustand versetzten, dem ich nur durch einen äußeren Reiz, wie das Miauen des Katers Vasja, der vor dem Klo lauerte, entkommen konnte. Nach einigen Minuten war der Hahn nicht mehr zu sehen und ich ging vorsichtig hinaus.

Der alte, plüschige Vasja rieb sich bereits an meinem Bein und bettelte um Streicheleinheiten. Sobald man ihn einmal streichelte, hatte man am nächsten Tag eine schrecklich juckende Poritze und kleine weiße Würmer im Stuhlgang, die aber wiederum am nächsten Tag verschwunden waren, wenn man zwei Knoblauchzehen gegessen hatte. Möglichst ohne in Versuchung zu geraten, Vasja zu streicheln, spazierte ich weiter in Richtung der drei Scheunen, die einige Meter voneinander entfernt standen. Scheunen und Anhänger in Kharkovskiy, Russland 2002

Die eine Scheune war leer, weil die ganzen Hühner und Enten am Tag draußen grasten. In der anderen Scheune befanden sich ein halbes Dutzend Schweine, die den ganzen Tag lang grunzten. Wenn das Grunzen lauter wurde, war das ein Zeichen dafür, dass Opa in der Scheune war und die Schweine fütterte. Ging man hinter die Scheune, so kam man auf ein etwas größeres Feld, wo die Großeltern Gurken, Tomaten, Frühlingszwiebeln, Kartoffeln, sogar Wassermelonen und vieles mehr anpflanzten. Dascha und mir teilten die Großeltern auch ein kleines Beet zum Experimentieren beim Anpflanzen zu. Hinter dem Feld war ein anderes, noch größeres Feld, und dahinter wieder Felder. Ganz weit in der Ferne konnte man so etwas wie eine Fabrik erkennen.

Vor der dritten und letzten Scheune befand sich ein Käfig mit zwei oder mehr Kaninchen, die Dascha gerne durch das Käfiggitter mit einzelnen Grashalmen fütterte. In der Scheune gab es eine freie, mit Heu bedeckte Fläche. Neben diesem Bereich war die große, hellgraue Hündin Marta angebunden, die unsere Kuh Dora nachts bewachte. In diesem Moment war Dora auf einer Wiese, wo sie von morgens bis abends mit anderen Kühen graste. Eine Person aus dem Dorf hatte die Aufgabe übernommen, gegen eine kleine Entlohnung auf alle Kühe aufzupassen.

Jeden Abend begab ich mich gemeinsam mit Ksjuscha und meinem Onkel auf den Weg, um Dora sowie die Kuh Mila von Tante Olja abzuholen. Die komplette Herde, bestehend aus weit über hundert Kühen, näherte sich mit einer selbstbewussten Gangart auf dem Feldweg, und schüchterte mich ein, weil die Kühe im Vergleich zu mir so massiv waren. Daher wich ich stets an den Straßenrand aus, um ihnen nicht im Weg zu stehen. Währenddessen hielten Onkel Sascha und Ksjuscha Ausschau nach unseren Kühen. Dora trug ein schwarzes Fell mit weißen Flecken, während Mila braun war. Das war das übliche Erscheinungsbild der meisten Kühe.

»Dora, Dora«, rief mein Onkel in die Herde hinein.

»Mila, Mila«, schallte Ksjuscha von einer anderen Seite. Eine Kuh bewegte sich zielgerichtet auf meinen Onkel zu. Es war Dora, die offensichtlich auf seinen Ruf reagiert hatte und auf ihn zulief.

Nachdem mein Onkel und Ksjuscha unsere Kühe identifiziert hatten, trieben wir Mila, unterstützt von einem Stock am Hinterteil, zum Hof von Tante Olja. Dort übernahm Ksjuscha das Kommando und führte die Kuh bis zur Scheune und blieb dann auf dem Hof von Tante Olja. Gemeinsam mit meinem Onkel begleitete ich Dora zwei Häuser weiter direkt in die Scheune auf dem Hof der Großeltern. Zu dieser Zeit begann es bereits draußen zu dämmern, und Opa sorgte dafür, dass auch die Hühner und Enten in die Scheune gelangten. Oma Lina näherte sich mit einem leeren Eimer dem Kuhstall, um Dora zu melken. Währenddessen begab sich Onkel Sascha auf den Heimweg zu Tante Olja und ich ins Haus der Großeltern.

Als ich die Haustür öffnete, lief der Fernseher, auf dem üblicherweise die Abendnachrichten zu sehen waren. Der Tisch neben dem Fernseher war bereits gedeckt – mit Weißbrot, selbstgemachter Butter, in Hälften geschnittenen, bereits gesalzenen Gurken und Tomaten aus unserem Garten, dazu warme Milch mit Honig oder Kefir. Als Nachtisch gab es grünen oder schwarzen Tee zusammen mit Aljonka-Schokolade.

Als Oma und etwas später auch Opa ins Haus kamen, saß ich bereits mit Dascha und Mama am Tisch, und wir schauten uns die unterhaltsame Zeichentrickserie »Nu, pogodi!« an, in dem ein Wolf vergeblich versucht, einen Hasen zu fangen.

Nach dem Essen schlug die Uhr bereits neun Uhr, und meine Oma wechselte den Kanal, weil sie gerne die Sendung »DOM 2« schauen wollte. Im Laufe der Zeit wurden Mama und Dascha müde und begaben sich langsam ins Bett, während ich noch eine Weile mit Oma und Opa vor dem Fernseher saß. Gegen halb zwölf ging ich aber auch schlafen, um das peinliche Gefühl zu vermeiden, in Anwesenheit der Großeltern die zu der späten Stunde üblichen Sexszenen zu sehen.

Der Affe

Eines Abends übernachtete ich bei Ksjuscha. Es war bereits zweiundzwanzig Uhr. Vor dem Schlafengehen hüpften wir noch ein bisschen auf Ksjuschas Doppelbett, als wäre es ein Trampolin. Tante Olja war währenddessen in der Küche und wusch Geschirr ab, während Onkel Sascha bereits im Wohnzimmer schnarchte.

Wir sprangen auf und ab, drehten uns und kicherten dabei leise. Bei jeder Landung quietschte das Bett. Irgendwann fiel mein Blick auf das Klavier und die Armee von Plüschtieren, die darauf stand. Während Ksjuscha weiter sprang, betrachtete ich einen etwas gruselig schauenden dunkelbraunen Affen genau in der Mitte der ganzen Plüschtiere, die auf einem Klavier standen. Seine Augen schienen mich förmlich zu verfolgen, und ein unangenehmes Gefühl überkam mich, als wäre ich mit Ksjuscha nicht allein in diesem Zimmer.

Ich sprang noch einmal hoch, ohne dabei meinen Blick von den Augen des Affen abzuwenden. Langsam hüpfte ich auf die linke Bettseite, dann auf die rechte. Ganz egal, wo ich sprang, der Blick des Affen war stets auf mich gerichtet.

»Ksjuscha, ich habe Angst. Der Affe schaut mich die ganze Zeit an«, sagte ich mit zittriger Stimme, die kaum zu überhören war und zeigte auf den Affen.

»Ach komm schon, das bildest du dir nur ein. Er guckt mich auch an«, entgegnete Ksjuscha und hüpfte weiter auf dem Bett, als wäre nichts geschehen.

Unbehaglich ging ich vom Bett an den linken Rand des Zimmers, dann lief ich an den rechten Rand und dann wieder auf das Bett. Doch es brachte nichts, seine schwarzen, sich augenscheinlich bewegenden Pupillen verfolgten mich an jeder Stelle des Raumes. Die Atmosphäre im Zimmer wurde zunehmend gruselig, und ein Schauer lief mir den Rücken hinunter. Mir wurde schwarz vor Augen und ich bekam Panik.

»Aaaaah«, schrie ich mit kreischender Stimme den Affen an, der mit seinem grinsenden Gesicht so aussah, als würde er mich auslachen. Mein Herz raste vor Angst, und ich sprang panisch vom Bett, nur mit einer Unterhose bekleidet. Ich schlüpfte in meine Latschen und rannte so schnell wie möglich aus dem Zimmer und aus dem Haus, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

Draußen war alles vom Mondschein bläulich gefärbt und die Grillen zirpten laut. Ohne nachzudenken, rannte ich, so schnell wie es ging, zum Haus der Großeltern. Ich blickte beim Rennen immer wieder zurück auf einen auf dem Feld errichteten Friedhof, auf dem meine Uroma beerdigt war. Auf den Strommasten sitzende Vögel, deren Schatten im Schein des Mondes zu erkennen waren, gaben schaurige Laute von sich. Ein plötzlich bellender Hund schreckte mich auf, sodass ich noch schneller zum Haus der Großeltern rannte.

Dort angekommen, war die Eingangstür noch nicht verschlossen. Oma schaute noch fern. Nachdem ich vom Rennen erschöpft meiner Oma erklärte, warum ich nur in einer Unterhose war, kam kurze Zeit später Tante Olja ins Haus, um zu fragen, warum ich denn plötzlich weggerannt war. Als ich ihr eifrig von dem Affen erzählte, lachte sie nur mit Oma zusammen darüber und verschwand wieder nach Hause.

Nachdem ich mich beruhigt hatte, ging ich zu meinem Schlafplatz ins Wohnzimmer. Dort machte ich zuerst den Kronleuchter an, der wegen seiner Farbe rötliches Licht ausstrahlte. Danach nahm ich ein auf dem Boden liegendes Stück gefaltetes Papier und stopfte es in den Schlitz zwischen der Tür und dem Rahmen, um die Tür überhaupt schließen zu können. Ich hielt die Hand am Lichtschalter und blickte kurz ins schwarze Innere des Kamins und auf den darauf stehenden Elchkopf. Dann machte ich das Licht aus und sprang direkt ins Bett unter die Decke. Mit dem Gesicht zur Wand – so fühlte ich mich sicherer. Es war so stockdunkel, dass es keinen Unterschied machte, ob ich die Augen geschlossen oder geöffnet hatte. Ich schloss die Augen und zitterte ein Weilchen wegen der noch kalten Bettdecke. Die fernen, leisen Geräusche des Fernsehers wiegten mich allmählich in den Schlaf.

zzZ…

Als ich am Morgen die Augen öffnete, saß eine kleine Maus auf der Bettdecke und sah mich erstarrt an. Wenigstens war es eine kleine Maus und nicht irgendeine dicke Ratte, wie sie manchmal in der anderen Hälfte des Hauses oder auf dem Dachboden herumlungerten. Mit den Beinen unter der Decke schleuderte ich die Maus direkt auf den Boden. Sobald sie gelandet war, flitzte sie blitzschnell in den Spalt hinter der Schrankwand.

Am Wochenende ging ich direkt nach dem Aufstehen - ohne zuvor gefrühstückt oder mir die Zähne geputzt zu haben - auf den Hof, um zu schauen, ob Onkel Sascha bereits dort war. Auf dem Weg zu Onkel grüßte ich meinen bunten Wellensittich, Kescha, dessen Käfig auf einem niedrigen Hühner- und Entenstall auf dem Dach stand. Dann hopste ich direkt zu Onkel, der gerade am Motor des Mähdreschers herumschraubte.

Ich verbrachte gerne die Zeit mit ihm. Er war der Hauptgrund, warum ich bei den Großeltern nicht an Langeweile litt. Er arbeitete immer am Haus der Großeltern, weil hier die ganze Technik stand. Ich fuhr gerne mit ihm und unserem blauen Trecker auf die Felder, um dort Sonnenblumen, Getreide, Weizen oder Gerste anzupflanzen und sie dann mit dem roten Mähdrescher zu ernten, den wir später gebraucht erworben hatten. Mit einer Zigarette im Mund übergab mir Onkel das Steuer auf einer geraden Strecke auf dem Feld. Sobald ich das Ende des Feldes erreichte, tauschten wir wieder die Plätze, und Onkel bog für mich ab, da ich mir das nicht zutraute.

Eines Tages kauften meine Großeltern sogar einen weiteren gebrauchten, etwas moderneren blauen Trecker. In meiner Freizeit hatte ich zusammen mit Onkel Sascha eine Musikanlage eingebaut und die Scheiben getönt, um vor der Sonne geschützt zu sein.

Wenn mein Onkel gerade nicht auf den Feldern arbeitete, war er oft damit beschäftigt, an der Technik herumzuschrauben oder seine eigenen Erntemaschinen zu bauen, wie zum Beispiel einen Pflug. Dabei half ich ihm immer gerne mit. Besonders viel Spaß machte es mir, die Erntemaschinen rot zu lackieren oder den Motor des Treckers zu putzen, damit er sauber und silberfarben glänzte.

Während Onkel seine Arbeitspause einlegte und die Großeltern sowie meine Mutter mit Dascha in die Stadt fuhren, nahm er immer eine Zigarette zur Hand. Er bevorzugte Prima-Zigaretten ohne Filter, da sie die preiswertesten in Russland waren und nur zwei Rubel und fünfzig Kopeken kosteten – genauso viel wie das günstigste russische Plombir-Eis oder fünf Kaugummis mit Aufklebern.

Während längeren Pausen oder wenn gerade nichts zu tun war, tüftelten wir gemeinsam an coolen Spaßprojekten. Wir stellten beispielsweise Holzschwerter und Bögen mit Pfeilen für mich, Ksjuscha und Dascha her. Manchmal fertigten wir auch Patronen für Onkels und Opas Doppelflinte für die Jagd an. Unsere Kreativität kannte keine Grenzen. Wir wagten uns sogar an eine echte Metall-Armbrust mit scharfen Pfeilen, mit der wir in die Luft schossen oder auf hölzerne Zielscheiben zielten.

Nach einer guten Ernte kam eine weitere Freizeitbeschäftigung dazu, denn meine Großeltern kauften einen Computer, den sie im Wohnzimmer von einem Fachmann einrichten ließen. Er bestand aus einem Röhrenbildschirm, einem metallischen Kasten, einer Tastatur, zwei Lautsprechern und einem Teil mit Lämpchen, das merkwürdige Geräusche von sich gab. Später stellte sich heraus, dass man damit ins Internet gelangen konnte. Ich wusste noch nicht so ganz, wie ein Computer funktionierte und durfte ihn deshalb anfangs nur unter Aufsicht nutzen. Auf dem Computer entdeckte ich an einem Abend aus Versehen ein Shooterspiel namens Quake III. Ich war neugierig, was passieren würde, wenn ich auf das rote Symbol in der rechten unteren Ecke des Bildschirms klicken würde. Kurzzeitig wurde der Bildschirm schwarz, sodass ich mich kurz erschreckte, weil ich dachte, dass ich möglicherweise etwas kaputt gemacht hatte. Doch dann startete der Trailer des Spiels und ich realisierte, dass ich die coolste Entdeckung gemacht hatte, die mir je passiert war.

»Mama, Mama, guck mal, ich kann schießen«, sagte ich vor Freude, während meine Mutter hinter mir Kleidung bügelte. Am nächsten Morgen erzählte ich meinem Onkel davon und wir spielten dann das Spiel zusammen, bevor er mit der Arbeit anfing.

Als ich die grundlegenden Dinge, wie das Benutzen von Programmen und sich per Telefon ins Internet einwählen, beherrschte, stöberte ich manchmal mit Onkel Sascha zusammen nach Pornobildern im Internet, während die Großeltern und Mama in der Stadt waren und Onkel Sascha eine Arbeitspause einlegte. Das Internetdingsda machte beim Einwählen in das Internet unterschiedlichste Pieptöne. Als man endlich mit dem Internet verbunden war, dauerte es minutenlang, bis die versaute Suchanfrage erste Ergebnisse anzeigte. Man verbrachte mehr Zeit mit dem Warten als mit dem Anschauen nackter Brüste. Manchmal wurde das Laden unterbrochen, weil die Internetkarte, die man für den Internetzugang kaufen musste, aufgebraucht war.

Um eine neue Karte zu besorgen, begleitete ich meine Mutter und die Großeltern manchmal in die Stadt. Während Oma Lina ihre Angelegenheiten erledigte, besuchte ich kurz Galja und Gogi und spazierte mit ihnen zum Asowschen Basar, um mir neue Latschen, Socken oder T-Shirts zu besorgen. Manchmal, wenn Oma Lina sehr lange brauchte, ging ich zum Petrovksy Boulevard, um zu schauen, ob auf dem Hof meine Freunde spielten. Wenn niemand da war, klingelte ich bei Sanja an der Tür. Dann ging ich mit ihm in ein Internetcafé, um dort den sehr beliebten Shooter Counter-Strike 1.6 zu spielen.

Sobald Oma Lina alles erledigt hatte, wurde ich von Opa Yura an der verabredeten Stelle abgeholt. Dann machten wir uns wieder auf den Weg zurück nach Kharkovskiy. Ab dem Ort, wo man mit Sicherheit auf keine Polizisten mehr auf der Straße traf, saß ich auf Opas Schoß und lenkte das Auto bis nach Hause. Später durfte ich das Auto auch alleine nach Hause fahren und kassierte Komplimente von Oma, die auf der Rückbank saß und meinen geschmeidigen Fahrstil lobte.

Natascha

In Kharkovskiy besuchte ich zuerst die sechste Klasse in der Schule Orlowskaja, zu der ich jeden Morgen mit dem Schulbus ins Nachbardorf Orlowka fuhr. Auch meine Mama fuhr dorthin, da sie in derselben Schule als Lehrerin der ersten Klasse arbeitete, in die auch Dascha eingeschult wurde. In meine Klasse ging Ira, eine Freundin von Ksjuscha. Immer, wenn ich bei meiner Tante war, wollten Onkel und Tante mich mit ihr verkuppeln.

»Sie sieht mit ihrem nach vorne gestrecktem Gebiss wie ein Urmensch aus«, antwortete ich dann verlegen. Es war mir unangenehm, in Anwesenheit meiner Tante über Mädchen zu reden, weshalb ich mir solche Ausreden ausdachte. In Wirklichkeit war sie mit ihren lockigen, dunkelblonden, zu einem Zopf geflochtenen Haaren und Sommersprossen das hübscheste Mädchen an der ganzen Dorfschule. Das heißeste Mädchen dagegen war Natascha aus der neunten Klasse, die Tochter meiner Geschichtslehrerin. Mit ihrem kurzen Rock, dem roten Lippenstift und den High Heels ließ sie die Jungs auf unserer Schule schwach werden.

In den großen Pausen ging ich dann mit Kiril und anderen hinter das eklige Plumpsklohaus der Schule und rauchte eine Zigarette, denn dort konnten uns die Lehrer nicht sehen. Dabei diskutierten wir darüber, wer und wie Natascha oder unsere ebenfalls geile Geschichtslehrerin durchnehmen würde. In der Mittagspause hatten wir genug Zeit, um Fußball zu spielen oder wir gingen in einen Dorfladen, um dort Kippen oder etwas Süßes zu kaufen.

Schlägerei

Als ich einmal in der großen Pause mit Kiril und Anton unterwegs zum Dorfladen bummelte, kam uns ein rauchender Junge entgegen, der etwa in unserem Alter war. Beim Vorbeigehen schmiss er seinen Zigarettenstummel beiläufig vor meine Füße.

»Ey, Arschloch«, schrie ich auf.

Der Typ drehte sich um.

»Hast du das mit Absicht gemacht?«, fragte ich ihn selbstbewusst mit herablassendem Ton. Anton und Kiril lachten.

»Komm Sanja, hau ihm eine rein«, flüsterte Kiril mir ins Ohr. Ohne groß zu zögern, ging ich auf den Typen zu und schubste ihn. Er schubste mich zurück. Ich lachte nur, kam ganz nah auf ihn zu und gab ihm eine Schelle, sodass seine Wange rot wurde. Einige Sekunden später, bevor ich reagieren konnte, schlug er mir mit der Faust genau ins Auge. Um Abstand zu ihm zu halten, versuchte ich, ihn mit dem Bein ins Knie zu treten, doch er wich aus, sprang auf mich zu und brachte mich zu Boden. Dann schlug er weiter auf meinen Kopf ein, während ich auf dem Bauch lag und mit den Händen versuchte, meinen Kopf zu schützen.

Schließlich griffen Anton und Kiril ein. Der Typ hörte auf, mich zu schlagen. Ich ergriff die Möglichkeit und rappelte mich auf. Der Typ schaute mich nur kurz an, bevor er sich abwandte und ging, während ich den Dreck von meiner Hose streifte. Das Auge schwoll sehr stark an. So konnte ich nicht in den Unterricht. Ich entschloss mich den nächsten Schulbus nach Hause zu nehmen. Möglichst unauffällig schlich ich am Busfahrer vorbei.

»Haha, guckt mal, er hat ein Ei im Auge«, sagte einer der Jugendlichen, während ich reaktionslos an ihm vorbeiging und mich in die hinterste Ecke setzte, mit nach unten gebeugtem Kopf und zum Fenster gewandt. Die Großeltern fragten mich später auch, warum mein Auge so blau angeschwollen war. Ich antwortete nur, dass ich mich geprügelt hatte und an Onkel Sascha gewandt fügte ich noch hinzu, dass ich den Kampf natürlich gewonnen hatte.

Leider schützte mich auch kein blaues Auge vor Hausaufgaben. Besonders wenig Lust hatte ich auf Mathematik. Onkel Sascha half mir mit meinen Mathehausaufgaben, weil ich in dem Fach Schwierigkeiten hatte. Er hingegen war sehr gut darin. Wenn ich nicht mit dem Auflösen der Gleichungen weiterkam, erledigte er es für mich.

Wenn Onkel Sascha mit Opa irgendwelche bürokratischen Angelegenheiten in der Stadt erledigte oder allein mit Tante Olja war, cruiste ich an warmen Tagen mit Ksjuscha zusammen auf dem Fahrrad durch das ganze Dorf. Wir spielten häufig Versteckspiele mit anderen Dorfkindern in einer unvollendeten, zweistöckigen Schule oder kletterten einfach auf dem Gerüst herum. An kalten Tagen oder bei starkem Regen hielt ich mich drinnen auf und baute zusammen mit Dascha und Ksjuscha im Wohnzimmer meiner Großeltern sogenannte "Basen" aus Plüschtieren, Legomännchen und anderen Spielzeugen, die dann gegeneinander kämpften.

Jagen mit Onkel

An den kalten, windigen Tagen des Frühlingsanfangs gingen Onkel Sascha, Ksjuscha und ich oft auf die Jagd nach bunten Fasanen und Enten. Dabei trug ich stolz Onkels Doppelflinte wie ein echter Jäger hinter meinem Rücken. Einmal war es so windig, dass ich beim Wandern durch das Schilf ins noch leicht vereiste Wasser fiel. Ich sprang so schnell wie möglich aus dem Wasser heraus, aber war bis zur Taille klitschnass. Onkel Sascha entfachte dann ein Lagerfeuer für mich, holte eine Flasche Wodka aus dem Rucksack und schenkte einen Becher halbvoll damit.

»Hier Sanyok, so wird dir warm«, sagte Onkel und überreichte mir den Becher. Danach zündete ich eine Zigarette an. Während ich einen Zug nahm, stand Onkel auf und zielte mit einem Gewehr in die Luft. *BUMM* Eine Ente fiel einige Meter von uns entfernt wie ein Stein vom Himmel. Zuhause übergaben wir den Vogel dann an Oma Lina, die daraus einen leckeren Braten bereitete. Wenn der Braten mal nicht von der Jagd war, dann stammte er vom Hof. Ein Hähnchen oder eine Ente waren kein außergewöhnliches Essen. Schaschlik, gemacht aus einem unserer Schweine, dagegen schon. Wenn es bei uns Schaschlik gab, dann bedeutete es meistens, dass jemand Geburtstag hatte.

Für den Schaschlik musste das Schwein zuerst geschlachtet werden. Mein Opa überließ das Schlachten, sei es von Schweinen, Hühnern oder Enten, lieber dem Onkel. Wahrscheinlich baute Opa, dadurch, dass er sich um die Tiere kümmerte, eine engere Beziehung zu ihnen auf. Sobald Yura mit einem Eimer in der Hand auf dem Hof vorbeiging, folgte ihm eine ganze Horde von Hühnern, Enten und ihre Küken hinterher. Onkel fütterte nie die Tiere am Hof, weshalb es wahrscheinlich kein Problem für ihn war, sie zu schlachten. Doch das Schlachten des Schweins war nicht mit dem Schlachten eines Huhns oder einer Ente vergleichbar. Das Flügeltier blutete nicht so stark wie das Schwein und machte auch keine Geräusche mehr, nachdem sein Kopf mit drei oder vier Axthieben abgehackt wurde. Ich fand es lustig, wie das Huhn dann kopflos einige Sekunden durch die Gegend hüpfte.

Beim Schwein war es anders. Dascha durfte es nicht angucken und musste ins Haus gehen. Das Schlachten des Schweins dauerte länger. Während Onkel mit einem langen Messer den Hals des Schweins einige Dutzend Sekunden lang durchschnitt, schrie das Schwein so laut, dass selbst die herumlaufenden Hühner und Enten zu grasen aufhörten und erstarrt das Schlachten beobachteten. Das Gras färbte sich um das Schwein herum allmählich dunkelrot. Das Ohr des Schweins zuckte noch, die Schnauze stand offen und das weit aufgerissene Auge blickte mich an. Wenn es mir zu viel wurde, flüchtete ich oft in den Garten, um Opa bei der Ernte von Tomaten und Auberginen für das Grillgemüse zu helfen. Wenn das Gemüse dann ins Haus gebracht wurde, bereitete Oma bereits das Schweinefleisch für den Schaschlik vor. Anschließend stürmte ich erneut nach draußen, um mit Onkel Holz zu hacken, das für das Schaschlik-Feuer benötigt wurde.

Sobald Oma »Sascha, bolshói!« aus der offenen Haustür in den Hof rief, meinte sie damit meinen großen Onkel, nicht mich.

»Sascha, málenkij«, rief Oma, wenn sie den kleinen Sascha, also mich, meinte.

Wenn die Schaschlik-Spieße fertig waren, holte ich sie zusammen mit meinem Onkel ab, um sie anschließend auf dem Grill zuzubereiten.

Mein Onkel war mein großes Vorbild, von dem ich viel lernte und mit dem ich gerne Zeit verbrachte. Nach der Schule wusste ich bereits genau, was ich tun wollte. Ich würde in die Fußstapfen meines Onkels treten und auf den Feldern und dem Hof arbeiten. Doch mein Leben wird anders verlaufen als erhofft, und schon bald wird es eine radikale Wendung nehmen...

Gerichtliche Dinge

Ständig musste ich mit Mama, Yura und Lina nach Asow fahren, um gerichtliche Dinge bezüglich der Scheidung meiner Eltern zu klären. Am liebsten wäre ich immer bei Onkel im Dorf geblieben, doch die Fahrten in die Stadt konnte ich mir nicht immer aussuchen…

Auch an diesem Tag stand einer der unerwünschten Besuche in der Stadt an. Es war heiß. Ich wartete mit Opa Yura schwitzend im Auto und trank dabei aus einem Plastikbecher kalten Kwas, das Opa aus dem Kiosk nebenan geholt hatte. Wir warteten auf Mama, die irgendwelche Angelegenheiten beim Gericht erledigte. Nach einigen Stunden kam sie zurück zum Auto und erzählte uns, dass sie dort Dima begegnet war. Er hatte ihr einen Kaffee spendiert, als die beiden vor der Tür des Richters warteten. Während Mama davon erzählte, wurde ihr plötzlich schlecht und sie musste sich auf den Rücksitz legen.

»Mir ist schwindelig. Mir wird schwarz vor Augen«, sagte sie mit zittriger Stimme, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren.

»Dieser Mistkerl hat dich bestimmt vergiftet!«, schrie Opa auf und drückte – ohne auf die rote Ampel zu achten - das Gaspedal durch, um meine Mutter so schnell wie möglich ins Krankenhaus zu bringen. Mein Herz fing an zu rasen. Ich hatte höllische Angst, dass meine Mutter vor meinen Augen sterben würde. Im Krankenhaus angekommen, wurde sie von den Sanitätern in Empfang genommen und ich war erneut dazu verdammt, mit Opa zu warten. Nach einigen Stunden der Behandlung wurde sie zum Auto zurückgebracht.

Seit diesem Vorfall trichterte mir Oma Lina ständig ein, dass mein Vater versucht hätte, meine Mutter zu vergiften. Ich sollte, wenn die Polizei oder der Richter etwas darüber fragen würden, immer auf der Seite meiner Mutter stehen. Ich sollte auch erzählen, wie Dima meine Mutter geschlagen hatte. Er hätte angeblich ihren Kopf viermal gegen die Wand gehauen, sodass meine Mutter dadurch schwerhörig geworden war. Ich konnte mich nicht daran erinnern, das gesehen zu haben, aber jedes Mal, wenn ich mit Oma in einen Streit geriet, wiederholte sie es so oft, dass ich nach einer Weile anfing, ihr zu glauben.

Irgendwann kam der Tag, an dem ich wegen Dimas Handgreiflichkeiten gegenüber meiner Mama bei der Polizei gegen Dima aussagen musste. Es fiel mir unglaublich schwer. Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, hätte ich am liebsten gar nicht ausgesagt, weil ich mir nie sicher war, ob Dima meine Mutter wirklich so brutal schlug oder sie nur schubste, um ihrem Hinterherrennen und ihren Vorwürfen zu entkommen. Aber vielleicht hatte ich es auch gar nicht sehen wollen. So oft, wie mir eingeredet wurde, dass mein Vater schuld sei, konnte ich es nicht mit Sicherheit bestreiten. Ich hatte jedenfalls keine andere Wahl, als auszusagen.

Um nicht direkt vor meinem Vater aussagen zu müssen, wurde ich in einen anderen Raum geführt. Dort fragte mich ein Polizist, was ich denn gesehen hatte.

»Mein Vater hat meine Mutter geschlagen. Er hat sie am Hinterkopf angefasst und schlug dann ihren Kopf viermal gegen die Wand«, sagte ich wie ein Roboter, der nur einen einzigen Satz gelernt hatte. Dann war ich fertig. Mehr wollte der Polizist nicht wissen.

Nachdem ich ausgesagt hatte, ging ich aus dem Raum und wartete im Korridor. Als ich Dima bemerkte, der gerade einen anderen Raum verließ, lief ich auf ihn zu.

»Dima, ich habe dich verraten!«, schrie ich ihm hinterher. Er drehte sich um und ich sprang ihm direkt in die Arme. Ich umarmte ihn ganz fest und fing an zu weinen. Dima erwiderte die Umarmung.

»Sanyok, es ist nicht schlimm«, tröstete er mich.

Einige Sekunden später kam Mama bei uns an. Ich nahm Dimas und Mamas Hand und schaute beide mit meinem tränenverschleierten Blick an. Es war das letzte Mal, dass ich Mamas und Dimas Hand gleichzeitig hielt.

Ich verabschiedete mich von meinem Vater, bevor er ging. Dann umarmte ich meine Mutter und wir fuhren zurück nach Kharkovskiy.

Essen mit Messern

Auch, wenn ich nun nichts mehr beim Gericht äußern musste, nahm mich Mama trotzdem ab und an mit in die Stadt, falls meine Anwesenheit oder eine zweite Aussage notwendig wären. So wie dieses Mal.

Die Reise ging nach Rostow. Opa Yura saß am Steuer, Oma Lina auf dem Beifahrersitz und Mama, Dascha und ich hinten auf dem Rücksitz. Wir ahnten nicht, dass was diese Fahrt für uns bereithalten würde.

Nach der Autobahn fuhr Opa mit ungefähr hundert Kilometern pro Stunde auf einer zweispurigen Straße, bis wir einen LKW einholten. Dann setzte Yura zum Überholen an. Als er bereits die Hälfte des LKWs überholt hatte, tauchte plötzlich links von uns ein weißes Auto auf, welches sowohl uns als auch den LKW blitzschnell auf engstem Raum überholte. Das erschreckte uns und vor allem Opa so sehr, dass er hastig das Lenkrad herumriss und direkt seitlich in den LKW knallte. Das Auto fing an, zu driften und kippte beinahe um.

Glücklicherweise schaffte es Opa rechtzeitig, die Kontrolle über den Wagen zurückzugewinnen. Das weiße Auto neben uns beschleunigte und versuchte, zu fliehen. Doch mein Opa gab nicht auf - trotz der total zerstörten rechten Autotür trat er aufs Gaspedal und versuchte, den Fluchtfahrer einzuholen. Unser Lada, der eine Höchstgeschwindigkeit von hundertsechzig Kilometer pro Stunde erreichte, konnte kaum mit der ausländischen Automarke mithalten. Der Fremde war viel zu schnell. Doch die Flucht dauerte höchstens eine halbe Minute, bis er von den an der Straßenseite stehenden Polizisten gestoppt wurde.

Wir standen alle unter Schock. Nachdem Opa mit den Polizisten gesprochen hatte, fragte er uns, ob wir in Ordnung seien. Als Mama zögerlich seine Frage bejahte, sah ich wie sie sehr auffällig ihren Bauch festhielt. Mir fiel erst in diesem Moment auf, dass er dicker war als sonst.

Natürlich hakte ich nach, als wir wieder zu Hause waren. Meine Großeltern versicherten mir, dass meine Mutter nur ein bisschen zugenommen hätte, doch ich glaubte ihnen nicht. Besonders, weil sie in den darauffolgenden Wochen völlig unerwartet begannen, das Haus zu renovieren. Die Türen und Böden wurden gestrichen, neue Tapeten geklebt, der Hof und das Haus komplett aufgeräumt. Das passierte alles so schnell, als hätten sie sich auf etwas Wichtiges vorbereitet.

Beim Mittagessen lagen auf einmal Messer neben den Gabeln, was sonst nie der Fall war. Wir aßen normalerweise immer nur mit einer Gabel, und wenn etwas durchgeschnitten werden musste, tat man dies mit dem Rand der Gabel. Es war anfangs verwirrend und ich wusste nicht, in welcher Hand es bequemer war, das Messer zu halten. Es war absurd und langsam unglaubwürdig, welche Geschichten sich die Großeltern ausdachten, um diese ganzen Veränderungen zu erklären.

Irgendwann kam der Zeitpunkt, als sie mir den wahren Grund eröffneten: Meine Mutter war schwanger. Als sie vor einigen Monaten für ein paar Wochen angeblich für eine Fortbildung verschwunden war, war sie stattdessen nach Deutschland gereist.

Sie hatte einen deutschen Mann übers Internet kennengelernt und ihn besucht. Von dieser Reise brachte sie den allmählich dicker werdenden Bauch mit, in dem sich meine Halbschwester, Laura, versteckte.

Kurz nachdem ich erfuhr, dass Mama eine heimliche Bekanntschaft gemacht hatte, kam auch Joachim, der mein zukünftiger Stiefvater sein sollte, nach Russland; um uns alle kennenzulernen. Er war ein Dutzend Jahre älter als meine Mutter. Er hatte kurze, dunkelblonde Haare, trug eine Brille mit runden Gläsern und zog öfter lustige Grimassen in Kombination mit einer verstellten nuschelnden Stimme. Er sah genau so aus, wie ich mir einen Deutschen immer vorgestellt hatte. Ihm fehlte nur noch die Uniform, die die deutschen Offiziere trugen. Das Einzige, was ich bis dahin nämlich mit Deutschland assoziierte, waren Nazis und Hitler.

Nach seiner Ankunft in Russland zeigten wir Joachim die nächsten Tage das Dorf Kharkovskiy und natürlich auch die Stadt Asow. Es war einer der peinlichsten Momente für mich, als wir im Asowschen Park in einem vollbesetzten Café saßen und Joachim sein Taschentuch herausholte, um sich damit ganz laut die Nase zu putzten. Alle Leute um uns herum drehten sich um und schauten uns an, als wären wir Wilde. Das Naseputzen bei Tisch ist in Russland so, als würde man absichtlich ganz laut furzen. Meine Mutter lachte trotzdem. Es war schön, sie wieder glücklich zu sehen; nach all den Schwierigkeiten mit meinem Vater und den ganzen Gerichtsbesuchen.

Vor allem der siebzehnte Dezember war ein ganz besonderer Tag für meine Mutter, denn an diesem Tag heiratete sie Joachim. Wir reisten mit der ganzen Familie – abgesehen von Oma Lina, die sich in dieser Zeit um den Haushalt kümmerte - nach Asow. Dort holten wir ein paar Bekannte ab und dann ging es direkt zum Standesamt, wo ein neuer Lebensabschnitt für uns alle eingeleitet wurde. Es war mir bewusst, dass von nun an mein Leben wieder eine große Veränderung erfahren würde.

Nach der Heirat spazierten wir kurz zum Fluss Don, um dieses schöne Ereignis auf ein paar Fotos festzuhalten. Als wir am Nachmittag wieder in Kharkovskiy angekommen waren, begrüßte uns Oma Lina mit Sekt und einem feierlich gedeckten Tisch. Es war üblich bei uns, an Feiertagen und Geburtstagen den Tisch reichlich zu decken; wobei auch mindestens eine Flasche Wodka nicht fehlen durfte. In Anwesenheit meines Onkels drückten die anderen immer ein Auge zu und ich konnte ein paar Kurze zum Wohle aller mittrinken. Joachim hatte damit anscheinend auch keine Probleme.

Er brachte mir aus Deutschland zwei meiner allerersten CD-ROMs mit zwei Computerspielen mit, wobei ich eines der Spiele ganz besonders ins Herz schloss. Es war ein fantastisches Rollenspiel, das den eigenartigen Namen »Gothic« trug, obwohl es nichts mit den schwarz angezogenen Menschen zu tun hatte. Als ich zum ersten Mal in die Welt von Gothic eintauchte, war ich von all den Einzelheiten, der Atmosphäre, und später auch von den rauen Dialogen und der Story überwältigt.

Die Dialoge in Gothic waren natürlich auf Deutsch, weshalb ich zu Anfang nichts verstand. Doch als mein Deutsch besser wurde, verliebte ich mich auch immer mehr in das Spiel. Mithilfe meiner Mama, die mir manchmal die Spielmissionen ins Russische übersetzte, fand ich endlich heraus, wie man eine Waldbeere aufhebt. Ich wusste bis dahin nicht, dass die Steuerung eines Computerspiels so rätselhaft sein kann. Man musste erst die Maustaste gedrückt halten und dann die Pfeiltaste betätigen, um die rote Waldbeere aufzuheben. Diese Komplikationen brachten mich zu Anfang eher dazu, auf das zweite von Joachim mitgebrachte Shooter-Spiel »Operation Flashpoint: Cold War Crisis« zurückzugreifen. Ich fand es aber auch dabei schwierig, nicht erschossen zu werden, und stürzte vor allem immer mit dem Flugzeug ab…

Mein erster Eindruck von Joachim war positiv. Er war gar nicht so schlimm, wie ich ihn mir anfangs vorgestellt hatte. Deshalb fand ich es auch gar nicht so schlimm, als meine Mutter mir mitteilte, dass wir bald nach Deutschland auswandern würden. Doch in dem Moment war mir noch nicht bewusst, dass die Menschen in Deutschland nicht nur kein Russisch sprechen, sondern auch ganz anders ticken als hier in Russland…

Alexander Fufaev vor dem Auswandern nach Deutschland

Die Abreise

Vor unserer Abreise wurden die rechtlichen Angelegenheiten zwischen Dima und Mama endlich geklärt, insbesondere bezüglich der Wohnung und der Adoption von Dascha und mir. Während dieser Zeit kehrte Joachim nach Deutschland zurück. Für den bevorstehenden Umzug musste ich mitten im Schuljahr die siebte Klasse mittendrin abbrechen.

Einige Wochen vor unserer Abreise nahm ich Abschied von meinen Freunden, zumindest von denen, die ich noch auf dem Schulhof erreichen konnte. Ich klingelte auch bei meinem besten Freund Sanja und erzählte ihm, dass ich wahrscheinlich für immer nach Deutschland auswandern würde. Seine Eltern standen neben ihm an der Tür und waren ebenso schockiert wie er. Doch keiner von uns konnte etwas dagegen tun. Nach einer herzlichen Umarmung musste ich mich schon wieder auf den Weg machen.

Eines sehr frühen Morgens war es schließlich soweit. Wir packten noch die letzten Koffer ins Auto; dann brachen wir auf. Bevor wir zum Flughafen nach Rostow fuhren, machten wir einen kurzen Halt in Asow bei Galja und Gogi. Als Galja die Tür öffnete, sprang ich ihr in die Arme. Ich konnte meinen Augen kaum trauen. Galja war normalerweise immer gut gelaunt, doch diesmal hatte sie Tränen in den Augen. So etwas hatte ich noch nie bei ihr gesehen. Es war ein schmerzhafter Abschied, doch was blieb mir anderes übrig? Die Tickets nach Deutschland waren längst gekauft, und ohne meine Mama hätte ich es sowieso nirgendwo ausgehalten.

Nach einer langen Fahrt erreichten wir schließlich den Flughafen in Rostow, als die Sonne gerade aufging. Ich verabschiedete mich von Dima, der uns bereits erwartete. Wir saßen in einer riesigen Halle, durch die immer wieder nervigen Durchsagen dröhnten – ich saß neben ihm und wartete, bis eine dieser blöden Durchsage an uns gerichtet war. Irgendwann war es soweit: Eine letzte Umarmung, und ich, Mama, Laura, Dascha und Opa Yura gingen zum Flugzeug. Immer wieder drehte ich mich um, um meinen Vater noch einmal zu sehen. Jedes Mal wurde er kleiner und kleiner, und meine Angst, dass ich ihn nie wieder sehen würde, größer und größer...

Von Rostow aus flogen wir zunächst nach Moskau, begleitet von Opa Yura. Da unser Flug erst am nächsten Tag stattfand, verbrachten wir die Nacht auf den unbequemen Flughafenstühlen. Ich konnte nicht schlafen, sondern lag dort nur und starrte auf die hohen Decken des Flughafens. Gedanken über das, was mich in Deutschland erwarten würde, und über die Trennung meiner Eltern kreisten in meinem Kopf: Vielleicht verdrängten meine Eltern uns, Dascha und mich, emotional, wenn sie miteinander stritten. Vielleicht waren sie sich gar nicht bewusst, welchen Einfluss ihre Trennung auf uns hatte. Vielleicht konnten sie es einfach nicht nachvollziehen, da sie als Kinder selbst nie in dieser Situation waren, in der sich Eltern für immer trennen.

Trotz der Scheidung meiner Eltern und des damit verbundenen Dramas war meine Kindheit abenteuerlich und wunderbar. Meine Kindheit in Russland – es war die schönste Zeit. Doch an diesem Tag hieß es Abschied nehmen. Abschied von meinen Freunden, von Opa Yura und Oma Lina, Tante Olja und Cousine Ksjuscha, von Onkel Sascha, Galja und Gogi – und von Dima. An diesem Tag, vier Tage nach Daschas Geburtstag, hieß es: Tschüss, Leben in Russland! Mit dreizehn Jahren wanderte ich in ein mir völlig fremdes Land aus.


Zukünftiges Learning aus der Zeit in Kharkovskiy: Kinder und Jugendliche haben Vorbilder, Menschen, die sie bewundern und gerne nachahmen. Onkel Sascha war mein großes Vorbild und eines Tages wollte ich so wie er ein Bauer sein.

Zukünftiges Learning aus dem Scheidungsprozess: Wenn ich irgendwann Vater werden sollte, werde ich meine Kinder nicht instrumentalisieren, um meine Beziehungsprobleme zu lösen. Ich werde meine unschuldigen Kinder vor Schuldgefühlen bewahren.