Alexander Fufaev
Ich heiße Alexander FufaeV und hier schreibe ich über:

2005-2007: Ein neues Leben in Deutschland und die Förderschule

Der 25. März 2005. Am frühen Morgen setzten wir die Reise ohne Opa mit dem Flugzeug nach Deutschland fort. Nach einem dreistündigen Flug erreichten wir schließlich Frankfurt. Wir verließen das Flugzeug und begaben uns zum Empfangsbereich, wo eine große Menschenmenge auf die Ankommenden wartete. Unter den Personen, die ganz vorne standen, entdeckte ich Joachim. Meine Mutter ging direkt auf ihn zu und umarmte ihn als Erste. Ich folgte ihr und umarmte auch ihn, fühlte mich jedoch leicht unsicher, da ich nicht wusste, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. In diesem Moment fühlte es sich jedoch nicht so schwer an, ihn als Teil unseres neuen Lebens zu akzeptieren. Besonders als wir zum Parkplatz gingen und ich dort seinen luxuriösen 7er BMW sah. In Russland hatte ich immer das Gefühl, dass nur wohlhabende Mafiosi solche Autos besaßen. In Deutschland schien es jedoch normal zu sein, denn alle Autos auf dem Parkplatz sahen beeindruckend aus.

Als wir uns in seinen BMW setzten, fragte ich mich neugierig, wofür all die Knöpfe und leuchtenden Anzeigen da waren. Im Vergleich zu Opas LADA wirkte die hochmoderne Innenausstattung des BMW wie etwas direkt aus einem Science-Fiction-Film entsprungen.

Von Frankfurt aus machten wir uns auf den Weg in Richtung Hannover. Nach einer langen, aber spannenden Fahrt auf der deutschen Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung, erreichten wir schließlich Lühnde. Als wir aus dem Auto stiegen, standen wir vor Joachims Haus, das nun unser neues Zuhause werden sollte.

Kaum hatte ich das Haus mit staunenden Augen betreten, als an der Tür ein großer Mann und ein kleiner Junge klingelten. Es waren unsere Nachbarn Jörg und sein Sohn Jan, der ein paar Jahre jünger war als ich. Obwohl sie die ganze Zeit auf Deutsch sprachen, konnte ich kein einziges Wort verstehen. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, hatte ich endlich die Gelegenheit, das Haus ein wenig zu erkunden. Eine Treppe im eigenen Haus - das war etwas ganz Besonderes! Und zwei Toiletten, sowie so viele Zimmer! Weiter kam ich mit meiner Erkundungstour leider nicht, denn die schlaflose Nacht am Flughafen und die Autofahrt hatten mich geschlaucht und ich war hundemüde. Haus meines Stiefvaters in Lühnde

Am nächsten Morgen setzte ich meine Erkundungstour im Haus fort. Mein Zimmer befand sich direkt links hinter der Eingangstür. Die Treppe führte nach oben zum Wohnzimmer, den Schlafzimmern der Eltern, Lauras und Daschas Zimmer sowie Joachims Büro. Im unteren Teil des Hauses befanden sich die Küche, das Esszimmer mit seinen antiken Stühlen, das Badezimmer und die Werkstatt, in der Joachims Motorrad stand und wo er immer rauchte.

Die ersten Abende in Deutschland waren für mich zutiefst schmerzhaft, denn die Sehnsucht nach Dima und den anderen war einfach zu groß. Einsam lag ich im Bett, starrte in die Decke und vermisste die vertrauten Gesichter, die Witze meines Vaters und die Abenteuer mit Onkel Sascha. Ich fühlte mich verloren in diesem neuen Land, das mir noch so fremd war.

Doch es blieb mir keine andere Wahl, als mich auf dieses unbekannte Leben einzulassen und darauf zu hoffen, dass es mit der Zeit erträglicher werden würde.

Die Förderklasse

Nach einer kleinen Eingewöhnungsphase musste ich in die Schule. Da ich kein Deutsch konnte, meldeten Mama und Joachim mich in einer Sprachförderklasse an, die von der Geschwister-Scholl-Schule in Hildesheim angeboten wurde.

Am ersten Schultag fuhr ich zusammen mit Mama mit dem Bus nach Hildesheim und von dort aus mit einem zweiten Bus zur Schule, um mich an den Schulweg zu gewöhnen. In der Schule wurde ich von meiner Klassenlehrerin, Frau Schlömer, der Klasse vorgestellt und dann ging es direkt mit dem Deutschlernen los: Kurze Sätze vorlesen und diktierte Wörter aufschreiben. In der Pause lernte ich die Russen Max und Maxim kennen, aber auch meine Klassenkameraden David und seine Schwester Sabrina aus Polen, Kerim und seine zwei Schwestern aus der Türkei, sowie Svetlana und Tanja, die ebenfalls aus Russland stammten.

Nach Schulschluss folgte ich einfach den anderen Schülern, die mich glücklicherweise zur richtigen Haltestelle führten. Von dort aus fuhr ich denselben Weg zurück zum Hildesheimer Hauptbahnhof, wo so viele Schüler auf die Busse warteten, dass ich zuerst Schwierigkeiten hatte, den richtigen Bus nach Hause zu finden. Mithilfe eines auswendig gelernten Satzes, den ich mit meinem starken, russischen Akzent vortrug, fragte ich schließlich einen Busfahrer nach dem Weg, und er half mir, die richtige Haltestelle zu finden. Nach einer halbstündigen Fahrt kam ich endlich, mit ein paar Stunden Verspätung, zu Hause an. Es war ein sehr anstrengender und stressiger erster Schultag in Deutschland.

Doch nicht nur der Schultag war anstrengend, sondern auch Joachims Regeln. Ich musste schon um zehn Uhr ins Bett gehen, mich im Auto anschnallen und bei Tisch stets warten, bis alle mit dem Essen fertig waren, während er seine Nase putzen durfte. Auch musste ich mich erst daran gewöhnen, abends nicht länger Omas Brot, sondern sogenannten Toast zu essen, den ich nicht mochte. Noch dazu schmeckten der Käse und die Wurst, mit denen ich das Brot belegte, irgendwie anders als in Russland. Das wirkte sich insbesondere auf meine Verdauung und den Filmeabend am Wochenende aus. Wenn Joachim während des Films auf dem Sofa einschlief und laut zu schnarchen anfing, musste ich nur einmal pupsen, um ihn zu wecken. Selbst ein leiser Pups war so dermaßen schlimm, dass Joachim davon aufwachte und zu meiner Mutter ins Schlafzimmer floh, während ich mein Lachen erfolglos zu unterdrücken versuchte. Das hatte ich von ihm gelernt. Was raus muss, muss raus – wie er immer sagte. Die Treppe im Haus meines Stiefvaters, Lühnde

Manchmal waren Mama, Joachim und Dascha unterwegs und ich musste auf die kleine Laura, die kaum krabbeln konnte, aufpassen. Wenn sie die Windel vollmachte, trug ich sie vorsichtig nach unten ins Badezimmer, um dort die Windel zu wechseln. Ich legte sie auf den Klodeckel, zog die alte Windel aus und als ich mich nach der neuen Windel umschaute, stellte ich fest, dass sie außerhalb meiner Reichweite war. Laura lag still auf dem Klodeckel, sodass ich davon überzeugt war, dass nichts passieren würde, wenn ich sie nur für eine Sekunde losließ, um schnell die Windelpackung zu schnappen.

*BUMMM* Als ich die Windelpackung in der Hand hielt, hörte ich einen Knall und dann plötzlich ein lautes Heulen. Laura war vom Klodeckel auf den harten Kachelboden gefallen. Mir rutschte die Windelpackung aus der Hand während mich gewaltige Angst überkam. Was, wenn sie sich bei dem Sturz etwas gebrochen hatte? Vorsichtig hob ich sie wieder auf den Klodeckel und stimmte in ihr Heulen ein, während ich sie gut festhielt und überprüfte, ob ihre Glieder in irgendeiner Weise schief standen. Als sie nach einer Weile endlich aufhörte, zu weinen, konnte ich mich auch beruhigen. Am nächsten Tag hatte sie einen riesigen blauen Fleck entlang ihres Beines. Mama wunderte sich, woher er kam, doch von dem Vorfall erzählte ich ihr erst einige Jahre später.

Alexander Fufaev an seinem ersten Computer in LühndeIch an meinem ersten eigenen Computer.

Alexey

Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Schule, an Joachims Regeln und an Deutschland. Klar, in den Pausen gab es oft Stress mit Schülern anderer Nationalitäten – manchmal sogar innerhalb der eigenen Klasse. Aber ich war im Hinblick auf solche Konflikte schon abgehärtet und im Vergleich zu meiner Schule am Petrovksy Boulevard waren die Reibereien hier bloß Kinderkram.

In der Pause saß ich meistens mit Max und Maxim zusammen und genoss mein Käsebrötchen, das ich für nur fünfzig Cent von meinem Taschengeld kaufte. Manchmal besserte ich mein Taschengeld auf, indem ich ein paar Münzen aus einer großen Vase voller Kleingeld entwendete, die im Schlafzimmer meiner Eltern stand.

Einmal kamen ein paar andere Russen an unserer Sitzbank vorbei und schüttelten uns die Hände, obwohl ich sie gar nicht kannte. Max und Maxim stellten mich ihnen vor. Diese Jungs waren schon in der fortgeschrittenen Sprachförderklasse. Unter ihnen befand sich auch Alexey, der später mein bester Freund hier in Deutschland wurde. Er war einen Kopf größer als ich, schlank, hatte blonde Haare und stammte ursprünglich aus Sibirien. Maxim hatte ebenfalls blonde Haare und war etwas kräftiger als wir. Max, hingegen, hatte kurze braune Haare und war einen halben Kopf größer als ich. Alle waren einige Jahre älter als ich.

Seit ich Max, Maxim, Alexey und den anderen Russen Gothic ausgeliehen hatte, war das Spiel das einzige Gesprächsthema in den Schulpausen.

»Ich war im Wald und da waren Orks!«, erzählte uns Alexey auf Russisch. Gothic war reich an Dialogen und Texten, die wir natürlich erst verstehen mussten, um weiterzukommen. Das Spiel half uns allen, unsere Deutschkenntnisse zu verbessern – jedoch nicht schnell genug für unsere Lehrer, wie aus meinem Leistungsstand ersichtlich war:

»[…] Er kam mit geringen Deutschkenntnissen in die Klasse. Er verständigt sich mit den Mitschülern auf Russisch. Bisher hat er wenig erkennbare Fortschritte gemacht. Er erledigt die ihm gestellten Arbeitsaufgaben zwar konzentriert, aber nur mit äußerst geringem Lerntempo. Alexander kann Texte fast flüssig lesen und zum Teil verstehen.

Er schreibt Texte fast fehlerfrei ab und geübte Diktate mit relativ wenig Fehlern. Er hat noch immer Probleme mit der lateinischen Schrift, speziell mit der Unterscheidung von Groß- und Kleinbuchstaben.

Alexander erfasst grammatische Zusammenhänge selbstständig und kann sie, wenn er sich bemüht, anwenden. Es fällt Alexander immer noch nicht leicht, sich in das deutsche Schulsystem einzufügen. Er kommt häufig zu spät und fertigt Hausaufgaben nicht regelmäßig an.«

Gothic

Wir übernahmen scherzhaft die Dialoge aus Gothic. Einmal schrie ich Max vor dem Einsteigen in den Bus zu: »Na warte, Du Lump!« und kicherte vor mich hin. Oder sagte zur Verkäuferin in der Cafeteria: »Zeig mir Deine Ware«. Doch anstelle von Drogen gab ich mein Geld für fettige Käsebrötchen aus.

Nachdem wir Gothic durchgespielt hatten, waren wir von der Story und den ganzen Abenteuern so überwältigt, dass wir uns sofort nach einer Fortsetzung erkundigten. Es gab tatsächlich einen zweiten Gothic-Teil. Jeder von uns kaufte sich das Spiel. Leider war mein noch mit Röhrenbildschirm ausgestatteter Computer zu langsam für Gothic II. Immerhin war es bloß ein alter Kasten, den Joachim nicht mehr brauchte. Ich war deshalb auf die anderen neidisch, weil sie mit ihren leistungsfähigen Computern bereits viel weiter im Spiel waren. Doch irgendwann kaufte mir Mama auch einen neuen Computer, den ich mir bei Media Markt selber aussuchen durfte. Er hatte sogar einen Flachbildschirm!

Mit dem neuen Rechner traute ich mich, meine russischen Freunde zu mir nach Hause einzuladen, wo wir LAN-Partys veranstalteten. Wir spielten Ballerspiele wie Counter-Strike 1.6 und die besten Strategiespiele, wie Age of Empires II und Empire Earth. Fufaev mit seinen Russenfreunden

Wenn jemand von uns Geburtstag hatte, wurde ich immer eingeladen; auch, wenn ich nicht immer dabei sein wollte, weil sich üblicherweise alle besoffen. Ich mochte zu dieser Zeit keinen Alkohol, insbesondere keinen Wodka. Wenn ich es mir aussuchen konnte, trank ich lieber ein kaltes Bier oder noch besser: Rotwein. Hauptsache, es schmeckte nicht nach Desinfektionsmittel.

Zu Maxims Geburtstag konnte ich mir den Alkohol leider nicht aussuchen. Es gab nur Wodka. Das führte dazu, dass ich mich nach über zehn Kurzen zum allerersten Mal übergeben musste; und das ausgerechnet in einer Bar – direkt auf ein Sofa. Max und Maxim trugen mich nach Hause zu Maxim, während ich laut das Lied »Weiße Rosen« von Jurij Schatunov lallte. Wir vier wurden in dieser Zeit echt gute Freunde, auch, wenn unsere Freundschaft von gegenseitigen – insbesondere sexuell angehauchten – Beleidigungen und Sprüchen gezeichnet war. Zusammen mit Max und Maxim überstand ich das erste Halbjahr der fortgeschrittenen Förderklasse. Im zweiten Halbjahr wurde ich aber ohne meine Freunde – mit der Empfehlung meiner Lehrerin – in die achte Hauptschulklasse geschickt, um dort die erworbenen Deutschkenntnisse unter Beweis zu stellen. Mein bisheriger Leistungsstand wurde wie folgt von meinen Lehrern kommentiert:

»[…] Obwohl er inzwischen so viele Vokabeln und Redewendungen gelernt hat, dass er sich mit seinen Mitschülern problemlos auf Deutsch unterhalten könnte, benutzt er überwiegend die russische Sprache. Er ist oft unkonzentriert und abgelenkt. Alexander sollte sich aktiver am Unterricht beteiligen. Alexander kann unbekannte Texte flüssig lesen, ihren Sinn weitgehend erfassen und mit eigenen Worten wiedergeben. Er schreibt Texte fehlerfrei ab und macht in geübten Diktaten relativ wenige Fehler. An seinem Schriftbild muss er noch arbeiten. Grammatikalische Zusammenhänge erfasst er selbstständig und kann sie anwenden. Wie im Deutschunterricht sollte er auch in Mathematik aktiver und seinen Fähigkeiten entsprechend mitarbeiten. […]«

Deutsche Klasse

Das zweite Halbjahr in einer richtigen deutschen Hauptschulklasse war nicht so erfolgreich, weil ich die Lehrer sprachlich noch nicht komplett verstand und ich die im Leistungsbericht niedergeschriebene Kritik meiner Lehrer auch nicht besonders ernst nahm. Außerdem machten Computerspiele viel mehr Spaß als Schule. Wenn ich mich nicht gerade hinter dem Computer verschanzte, spielte ich mit dem Nachbarskind Jan und seinen Freunden manchmal Fußball. Das Gute am Fußball war, dass wir nicht miteinander reden mussten. Es war nämlich schwierig für mich, alles zu verstehen, was die Jungs sagten.

Manchmal luden uns die Nachbarn auch zum Grillen ein. Dort verstand ich dann gar nichts mehr von dem, was die Erwachsenen redeten. Beim Grillen war auch Jans ältere Schwester, Lisa, dabei, die ich ziemlich hübsch fand. Wir hatten miteinander überhaupt nichts zu tun, vor allem, weil ich immer schnell wegschaute, sobald sie in meine Richtung sah.

Das letzte Mal, dass ich ihr tief in die Augen blickte, war von meinem Zimmer aus, als ich hörte, dass jemand direkt vor meinem Fenster mit einem Ball spielte. Also spähte ich kurz zwischen den Lamellen des Rollos hindurch und sah Lisa, die mit ihrem Bruder Basketball spielte. Ich starrte sie die ganze Zeit an, während sie direkt vor meinem Fenster dribbelte. Plötzlich drehte sie sich zu meinem Fenster und erwischte mich. Ich fand das so extrem peinlich, dass ich von dem Moment an immer versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen. Mit Jan hatte ich seitdem auch weniger zu tun.

Vom Bauer zum Computernerd

Aufgrund meiner schlechten Deutschkenntnisse, insbesondere wegen der Unfähigkeit, mit anderen richtig zu kommunizieren, isolierte ich mich von der Außenwelt und flüchtete in die Welt der Computerspiele. Diese Phase der Isolation veränderte nach und nach meine Persönlichkeit. Doch ich glaube, wenn ich statt Max, Maxim und Alexey falsche Freunde kennengelernt hätte und nicht so einen guten Stiefvater gehabt hätte, dann wäre aus mir kein Computernerd geworden, sondern vielleicht ein Junkie oder ein Krimineller. Meinen russischen Kumpels und den anderen Ausländern an meiner Schule, die ja ebenfalls ohne jegliche Sprachkenntnisse in einem fremden Land gestrandet waren, ging es ähnlich. Manch einer war ständig aggressiv, ein anderer machte einen dicken Deutschen mit Brille fertig, der nicht an Gott glaubte. Dann waren da noch die ganzen Draufgänger und wir - die kulturellen Außenseiter. Jeder war das Ergebnis seines sozialen Milieus. Ich hatte echt Glück, dass ich mich mit vernünftigen Leuten und nicht mit Gopniki anfreundete. Alexander Fufaev mit seiner Schwester am PC in Lühnde


Zukünftiges Learning aus dem Auswandern: Der wichtigste Schritt, um eine Person in einer fremden Gesellschaft (mit einer anderen Sprache und Kultur) zu integrieren, besteht darin, sie mit bereits integrierten Menschen in Kontakt zu bringen.