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Der erste Tag der Einfühungswoche

5. Oktober 2015. Heute traf ich mich zum ersten Mal mit den Leuten, die ich für die Lerngruppe per Facebook organisiert hatte. Wir hatten uns vor dem Haupteingang der Uni verabredet und versperrten ihn unabsichtlich. Ich war etwas schweigsam, während David, Antonia und Laura sich unterhielten. Dann kam noch Wajahat hinzu.

Eine Gruppe von Studenten wollte an uns vorbei und wir mussten kurz zurückweichen.

»Seid ihr auch Physikstudenten?«, fragte uns ein Mädchen, das vor uns stehen blieb. Nachdem wir ihre Frage bejaht hatten, stellte sie sich als Jule vor und schloss sich uns an. Gemeinsam machten wir uns alle auf den Weg zum Hörsaal, wo die mathematische Einführungsveranstaltung stattfand. Als wir uns alle hingesetzt hatten, waren es noch knapp zehn Minuten bis zum Veranstaltungsbeginn. Also stützte ich den Kopf in die Hände und beobachtete, wie neue Studenten in den Hörsaal kamen und Plätze möglichst nah bei den anderen besetzten. Wahrscheinlich, um schnell neue Freunde zu finden. Natürlich ließ ich mich auch von den heißen Studentinnen ablenken, die den Hörsaal betraten. Eine Studentin kam mir besonders interessant vor. Sie war nicht nur schön, sondern sie schien mir auch irgendwie anders zu sein, weil sie sich etwas abseits von anderen hingesetzt hatte. Ich saß viele Reihen hinter ihr und konnte nur ihr langes, blondes Haar sehen. Während in den letzten Minuten vor Veranstaltungsbeginn alle noch quatschten, saß sie irgendwie allein da. Kluge Außenseiterfrauen zogen mich immer an. Auch, wenn ich den Drang verspürte, hatte ich nicht vor, sie anzusprechen, geschweige denn, ein Horoskop zu befragen, ob es sich doch gelohnt hätte. Ich hatte mir selbst versprochen, nicht mehr nach der Liebe zu suchen, also musste ich das auch unter allen Umständen einhalten.

Während des Mathematikkurses lösten wir, nach einigen Erklärungen des Tutors, Aufgaben.

»Was hast du herausbekommen?«, fragte mich Jule, die rechts neben mir saß.

»Ich muss noch etwas überlegen«, entgegnete ich ihr, um bloß nicht dumm zu wirken. Dabei kam ich beim Lösen der Aufgaben gar nicht weiter. Ich konnte die Aufgabe irgendwie nicht visualisieren. Und wenn ich mir eine Sache im Kopf nicht als Bild vorstellen konnte, dann verstand ich diese Sache meistens nicht. Wahrscheinlich fiel es mir deshalb immer schwer, etwas auf Anhieb zu kapieren, weil ein Bild in meinem Kopf eben Zeit brauchte, um sich herauszukristallisieren.

Um Jule etwas von meiner Unwissenheit abzulenken, fragte ich sie nach ihrer Handynummer, um sie in unsere WhatsApp-Gruppe einzuladen. Dann rechneten wir weiter. Sie löste alle Aufgaben richtig. Als ich sie fragte, warum sie so gut war, erzählte sie mir, dass sie das schon in der Schule gut konnte. Sie hatte einen Notendurchschnitt von 1.0 im Abitur und begriff alles sehr schnell, ohne viel dafür tun zu müssen.

Als der Kurs nach zwei Stunden zu Ende war, kamen die Tutoren aus höheren Semestern, um kleine Gruppen von ungefähr zehn Studenten zu bilden, mit denen man dann eine ganze Woche lang zu tun hatte. Die Tutoren verteilten sich vorne entlang der langen Tafel und forderten uns auf, mit kleinen Grüppchen zum gewünschten Tutor nach vorne zu gehen. Das erste Dutzend Studenten ging zu einem Tutor. Direkt danach das nächste Grüppchen. Mein Herz fing an zu rasen. In meinem Bauch breitete sich dieses Aufregungsgefühl aus, das kurz vor einem Vortrag entsteht, auf den man sich nicht vorbereitet hatte. Ich verspürte den starken Drang, mit dieser einsamen Studentin in eine Gruppe zu kommen. Jedoch wollte ich auch, dass die Leute aus meiner WhatsApp-Gruppe mit dabei waren.

»Die Nächsten, bitte«, forderte ein Tutor die nächste Gruppe auf, nach vorne zu kommen.

»Wollen wir?«, fragte uns Jule. Die anderen nickten und gingen sofort los. Ohne die Frage beantworten zu können, folgte ich ihnen enttäuscht. Doch dann - ein Wunder! Ich weiß nicht, wie es überhaupt möglich war, aber aus den vielen noch nicht zugewiesenen Studenten stand ausgerechnet sie aus den vorderen Reihen auf und kam mit in unsere Gruppe. So etwas ließ sich echt nur durch eine übernatürliche Kraft erklären…

Wir gingen anschließend ins Institut für Theoretische Physik, das etwas weiter von dem Hauptgebäude gelegen war. Dort setzten wir uns in einen recht dunklen, fensterlosen Raum, der sehr gut das Klischee eines Physikerraums erfüllte. Wir mussten uns kurz vorstellen und sagen, warum wir Physik studieren wollten. Jule stellte sich vor. Dann Niels, dann Claudia, die ich interessant fand und dann Jessica. Schließlich war ich an der Reihe.

»Ich heiße Alexander, komme ursprünglich aus Russland und ich habe die ersten beiden Semester nicht bestanden. Ich habe auch damals die Einführungsveranstaltung nicht besucht. Deshalb will ich es dieses Mal besser machen und mich einer Lerngruppe anschließen«, sagte ich, bevor ich erklärte: »Ich studiere Physik, weil ich wie Einstein die Welt voranbringen möchte. Mein Ziel ist es, den Physiknobelpreis zu erhalten.«

Die Tutoren, so schien es mir, reagierten überrascht. Sie mussten mich wohl für total verrückt halten. Zum Abschluss der Vorstellungsrunde spielten wir noch ein Spiel, dessen Regeln ich nicht richtig verstand, dies aber nicht äußerte, und mich deshalb etwas blamierte. Vielleicht hätte ich den Nobelpreis, in Anbetracht dieser Blamage, besser nicht erwähnen sollen. In diesem Moment war es jedenfalls leider schon zu spät.

Mit meiner Gruppe hatte ich dann eine Woche lang Mathematikkurse, Führungen durch verschiedene Institutionen der Universität und Kneipen. Am letzten Tag der Einführungswoche, während der sogenannten Rallye-Veranstaltung, ging es darum, in Gruppen Aufgaben zu lösen, die sich die Tutoren ausgedacht hatten, und dabei zu saufen. Je lächerlicher, verrückter oder kreativer man sich anstellte, desto mehr Punkte bekam die Gruppe. Verrückt war ich auf jeden Fall: Statt sich, wie alle anderen die von den Tutoren verteilten gelben Säcke zu einem Umhang, Kleid oder T-Shirt zu basteln, stülpte ich mir den Sack über den Kopf und ließ mein Gesicht von Claudia mit einem Lippenstift bemalen. Vielleicht hatte sie sogar Interesse an mir, denn was ist schon deutlicher als ein großes rotes Herz auf meiner Stirn?


Zukünftiges Learning aus dem gescheiterten Studiumstart: Wie ich später feststellen werde: Die Welt geht nicht unter, wenn ich einen Neustart des Studiums wage. Ein Neustart ist vergleichbar mit dem Zurückkehren an eine Weichenstelle und dem Einschlagen eines anderen Pfades oder aber des gleichen Pfades – allerdings dieses Mal mit der zusätzlichen Erfahrung im Gepäck.