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Kindheit in Novomirskiy, Russland. Angst vor tiefem Gewässer.

Alexander Fufaev Einschulung in RusslandIch bin der im T-Shirt.

Das Jahr 1999. Meine Eltern hatten sich einfach nicht getraut nach Neuseeland auszuwandern. Andere Menschen, andere Sprache und dann auch noch so weit weg von den eigenen Eltern entfernt. Stattdessen überließen sie unser Haus den Großeltern zum Verkauf und zogen in den Süden Russlands – in ein kleines Dörfchen namens Novomirskiy, nur dreißig Kilometer von Opa Yura und Oma Lina entfernt.

Unsere Wohnung bestand aus einem einzigen, dreißig Quadratmeter großen Zimmer, das gleichzeitig als Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer diente. Um die Küche vom Wohn- und Schlafzimmer zu trennen, benutzten wir die Kartons unserer neuen Möbel, die wir nach dem Umzug gekauft hatten.

Die Wohnung war ohne Wasseranschluss, sodass meine Eltern das Wasser aus einem Brunnen holen mussten. Die Toilette bestand aus einem Plumpsklo draußen im Hof. Da es keine fest verbaute Heizung gab, benutzten wir an kalten Tagen einen kleinen elektrischen Heizkörper, den wir mitten im Wohnzimmer aufstellten.

Ich wurde eingeschult, während meine Eltern in einer Schule um die Ecke als Englischlehrer arbeiteten. Meine Mama unterrichtete zusätzlich Deutsch in unteren Klassen. Nach dem Unterricht verbrachte ich die meiste Zeit auf dem Spielplatz der Schule mit meinen neuen Freunden und besuchte dort auch einen Karatekurs.

Obwohl Novomirskiy kein Traumort war, fühlte es sich für mich stärker nach Heimat an als Usbekistan. Hier sprachen alle Menschen Russisch, was mir ein Gefühl der Verbundenheit gab. Trotz des niedrigeren Lebensstandards im Vergleich zu Usbekistan fühlte ich mich in Novomirskiy glücklicher! Es waren wohl meine Freunde, die mein Glück beeinflussten, und nicht, ob ich in einer beheizten Toilette oder einem Plumpsklo mein Geschäft verrichtete.

In den Ferien kam Opa Yura mit seinem blitzsauberen Wolga zu uns und brachte uns alle nach Kharkovskiy, in das neu errichtete Haus meiner Großeltern. Die Fahrt führte uns über Kugei und Poltava, wo Opa auf dem Weg einige große Säcke voller Sonnenblumenkerne oder anderer Samen für ein paar hundert Rubel verkaufte. Nach den kurzen Zwischenstopps in den Dörfern fuhren wir weiter zur Oma Lina, die uns bereits mit einem reichlich gedeckten Tisch erwartete.

Meine Großeltern lebten zusammen mit meiner Uroma, Anna Solomonova, der Stiefmutter von Yura. Sie konnte sich kaum bewegen, weil sie eine große Wunde entlang ihrer Wade hatte. Sie verbrachte deshalb die meiste Zeit still auf ihrem Bett sitzend oder liegend. Manchmal schimpfte Opa mit ihr, wenn sie die sowieso schon schlecht heilbare Wunde noch aufkratzte. Eines Morgens wachte sie nicht mehr auf. Begraben wurde sie auf dem nahgelegenen Friedhof. Onkel Sascha war auch bei der Beerdigung dabei, denn er wohnte nur zwei Häuser weiter mit seiner Frau, Tante Olja und deren Tochter, Ksjuscha.

Meine Cousine war nicht die leibliche Tochter von Onkel Sascha. Sie war ein Jahr älter als ich und immer, wenn ich bei den Großeltern zu Besuch war, spielten wir miteinander. Zu Hause bei Tante Olja gab es einen Videokassettenrecorder mit Kassetten wie »Der König der Löwen«, »Mulan« oder »Pocahontas«. Ein Teil der Kassetten war von Onkel Sascha. Er besaß viele Horrorfilme, meistens blutiger Art, wie »Freddy Krueger«, »Jason«, »Scream« und verschiedenste Zombie- und Werwolffilme. Ksjuscha und ich schauten alle.

Während der dreimonatigen Sommerferien fuhr ich mit Ksjuscha, Onkel Sascha und Opa Yura fast täglich mit der Kutsche zu einem nicht weit entfernten, schilfumrundeten Teich, wo wir badeten oder mit Opa angelten und dann direkt am Teich Ucha, eine russische Fischsuppe, kochten.

Wie meine Angst vor tiefen Gewässern entstand

Ich konnte nicht schwimmen, daher war ich immer darauf angewiesen, einen Schwimmring zu tragen, wenn ich mich im Wasser befand. Der Ring war so groß, dass ich direkt durch das Loch fallen würde, wenn ich meine Hände anheben würde. Normalerweise stützte ich mich am Schwimmring mit meinen Achseln ab, um sicherzustellen, dass ich nicht durch das Loch rutschte. Doch an diesem Tag hielt ich mich nicht dran...

Ich befand mich mit Ksjuscha und Dima im Wasser. Ksjuscha rief zu unserem Opa Yura, der am Ufer stand und eine gekochte Kartoffel aß: »Opa Yura, wirf uns den Ball zu!«

Der Ball landete nicht weit von Ksjuscha entfernt im Wasser. Sie holte ihn und warf ihn in die Luft, bevor sie ihn in Richtung Dima schlug. Dima fing den Ball und spielte ihn genauso zu mir zurück. Der Ball flog hoch in die Luft und ich streckte meine Arme aus, um ihn zu fangen. Dabei stützte ich mich unbewusst am Schwimmring ab, um höher zu springen. Gerade noch erreichten meine Fingerspitzen den Ball, bevor ich von der Schwerkraft nach unten gezogen wurde. Ich tauchte immer tiefer und konnte keine Luft mehr bekommen. Das Wasser drang in meine Nase und meinen Mund ein, während ich weiter in die Tiefe sank. Die Sonne schien trüb und das Licht wurde immer schwächer, je weiter ich abtauchte. Eine panische Angst erfüllte meinen Körper und ich dachte, dass dies das Ende meines Lebens sein könnte. Doch plötzlich spürte ich, wie mich jemand von hinten ergriff und mich zur Wasseroberfläche schob. Als ich endlich auftauchte, rang ich nach Atem und hustete schmerzhaft. Es war mein Onkel, der mich gerettet hatte. Er hielt mich fest, während wir ans Ufer zurückkehrten. Dieses traumatische Erlebnis hat eine tiefgreifende Angst vor tiefem Wasser in mir ausgelöst, die mich bis ins Erwachsenenalter begleitete.

Zum Asowschen Meer

Nach einer erfolgreichen Weizenernte im Herbst verkaufte Opa Yura seinen geliebten Wolga und kaufte stattdessen einen roten Lada. Doch selbst dieses geräumige Auto war eigentlich zu klein, um uns zum Highlight der Sommerferien zu befördern – zum hundert Kilometer entfernten Asowschen Meer. Opa saß am Steuer, Dima auf dem Beifahrersitz, Onkel Sascha mit Tante Olja und Ksjuscha auf der Rückbank. Und ich befand mich im Kofferraum, wo ich die Autos hinter uns durch ein Fenster beobachtete. Es war zwar nicht erlaubt, Personen im Kofferraum zu transportieren, doch das einzige Mal, dass wir tatsächlich von der Polizei aufgehalten wurden, konnten wir uns mit einem Hundert-Rubel-Schein (für einen schönen Abend mit Schaschlik) freikaufen.

Am Ende der Sommerferien bei meinen Großeltern zogen meine Eltern, Mascha und ich erneut um, dieses Mal nach Asow. Meine Jugend in Asow wird mich mit abenteuerlichsten Erinnerungen bereichern. Alexander Fufaev Einschulung in die zweite Klasse. Asow, RusslandEinschulung in die zweite Klasse. Na, findest du mich?


Zukünftiges Learning aus meiner Kindheit in Novomirskiy: Wie glücklich ich mich fühle, hat nichts damit zu tun, ob ich eine beheizte Toilette oder ein Plumpsklo zu Hause benutzen muss. Das was mich glücklich macht, sind soziale Beziehungen und Erlebnisse.