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Leben in einem Hochhaus in Asow, Russland

Alexander Fufaev

Leben in einem Hochhaus in Asow, Russland

Hochhaus in dem Alexander Fufaev in Asow lebte

Die 2000er. Es war kaum ein Jahr her, seit wir nach Novomirskiy gezogen waren, dass wir unsere Sachen erneut packten und in die kleine Stadt Asow in die Straße Moskowskaja zogen, die ungefähr fünfzig Kilometer entfernt lag.

In einem Hochhaus zu wohnen war für mich eine ganz neue Erfahrung – ganze acht Stockwerke hoch, etwas, das ich weder in Usbekistan noch in Novomirskiy je erlebt hatte! Sogar ein Aufzug war vorhanden, obwohl dieser fürchterlich nach Urin roch. Anfangs stellte ich mir oft vor, der Aufzug sei eine Art Rakete, die mich so hoch hinaufbrachte, dass ich die ganze Stadt überblicken konnte. Ich wollte noch höher steigen, aber die Treppe, die auf das Dach führte, war normalerweise durch eine verschlossene Gittertür versperrt. Nur gelegentlich hatte ich Glück und die Tür war unverschlossen, sodass ich auf das Dach des Hochhauses gelangen konnte. Von dort aus konnte ich sogar bis zur anderen Seite der Stadt blicken, wo sich meine neue Schule befand.

Auf dem Dach herrschte stets eine windige Atmosphäre. Als ich das erste Mal mutig an den Rand des Hochhauses trat und nach unten auf die winzigen Menschen schaute, durchzuckte mich der Gedanke, wie ein starker Windstoß mich nach unten drücken könnte und ich in die Tiefe stürzen würde. Ich stellte mir vor, auf dem Boden zu liegen, tot, bis meine Mutter mich entdeckte und in Tränen ausbrach. Diese Vorstellung erzeugte in mir eine überwältigende Höhenangst. Rasch ging ich zurück zur Mitte des Hochhauses und wagte es nie wieder, mich dem Rand zu nähern.

Inzwischen war ich in der zweiten Klasse und hatte mich an der neuen Schule schnell eingelebt. Ich hatte rasch Freunde gefunden, darunter Timur, Ivan, Wasja und einige andere aus meiner Klasse. In den Schulpausen verbrachten wir viel Zeit miteinander, streiften durch Asow und suchten nach spannenden Abenteuern.

Mädchen interessierten mich damals überhaupt nicht. Ich fand sie langweilig und nervig. Die einzige Ausnahme war meine Klassenlehrerin. Ich saß in der ersten Reihe und konnte ihr süßes Parfum riechen. Ihr durchdringender, blauäugiger Blick schien ins Unendliche zu schweifen und lenkte mich ständig von den Übungsaufgaben ab, die wir in der Stillarbeit erledigen sollten. Um ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen, malte ich heimlich immer wieder meinen Schulschrank an, um ihr dann traurig zu erzählen, dass jemand ihn beschmiert hätte. Sie tröstete mich mit einer Umarmung. Doch nachdem ich beinahe einmal von der Direktorin erwischt worden war, hörte ich damit auf.

Abgesehen davon war ich jedoch ein Musterschüler. Sowohl in der zweiten als auch in der dritten Klasse hatte ich nur Fünfen, die bestmögliche Note, auf dem Zeugnis, wofür ich am Ende des Schuljahres kleine Auszeichnungen von der Schule bekam.

Nach Schulschluss spielte ich immer mit meinen neuen Freunden auf dem Schulhof, bevor ich nach Hause ging. Statt den normalen Weg zu nehmen, bevorzugte ich eine von mir entdeckte Abkürzung über einen Zaun und eine Mauer. Von dort aus gelangte ich auf die Rückseite unseres Hochhauses – auf den Hof, wo manchmal die Nachbarskinder spielten. Dort stand eine große Schaukel, auf der man mit genügend Schwung sogar Umdrehungen von dreihundertsechzig Grad schaffen konnte.

Ein Stückchen weiter am Ende des Hochhauses, hinter einer Straße, gab es eine verlassene, mit Unkraut zugewachsene Baustelle. Dort kletterte ich manchmal mit meinen Schulfreunden auf dem Gerüst herum oder versuchte, die eine oder andere kleine Eidechse zu fangen. Ich schaffte es nur, wenn ich sie nicht am Schwanz zu greifen versuchte, denn den warf die Eidechse einfach ab und verschwand blitzschnell in einem Schlitz zwischen den Steinen. Wenn es mir tatsächlich gelang, eine zu fangen, brachte ich sie nach Hause und legte sie in ein Glas, dessen Boden ich vorher mit Gras auslegt hatte.

Unsere Ein-Zimmerwohnung lag im ersten Stock. Das Zimmer war lustigerweise nicht quadratisch, sondern auf einer Seite dreieckförmig. An der Spitze des Dreiecks gab es ein Fenster, an dem ein aufklappbarer Tisch stand. Dort machte ich meine Hausaufgaben. Auf der anderen Seite des Wohnzimmers stand mein Bett und genau in der Mitte des Wohnzimmers ein Doppelbett, in dem meine Eltern und Mascha schliefen. Darüber, an der Wand, hing ein riesiger orientalischer Teppich, den wir noch aus Usbekistan mitgebracht hatten. Gegenüber dem Doppelbett erstreckte sich eine gewaltige Schrankwand mit Kleidung, Büchern, einem Fernseher und einem Videorecorder. Endlich hatten wir auch fließendes Wasser in der Wohnung; und damit auch eine Toilette sowie eine fest verbaute Heizung.

Ohne ein Auto und eine Anbindung der Stadt an Novomirskiy mussten sich meine Eltern eine neue Arbeit suchen. Meine Mama wurde als Lehrerin eingestellt, aber Dima war vorerst ohne Arbeit. Das änderte sich jedoch schnell, als Mama in der Zeitung eine Anzeige für eine interessante Stelle bei einem regionalen Radiosender fand. Der Sender suchte einen Moderator und mein Vater wurde sofort eingestellt, denn er besaß eine tiefe Stimme, war redegewandt und sprach jedes einzelne Wort sehr deutlich aus. Er war grundsätzlich ein sehr extrovertierter Mensch und konnte sich mit seiner Art und mit seinem Humor schnell mit verschiedensten Leuten anfreunden.

Der Radiomoderator

Eines Abends nahm mich Dima mit zu seiner Arbeit, da wir Mama eine kleine Überraschung bereiten wollten. Vor dem Eingang ins Gebäude wurden wir von einer Überwachungskamera gesichtet. Nach einem freundlichen Winken in die Kamera ging die stabile, metallische Eingangstür wie von alleine auf. Es war ein Wachmann, der uns am späten Abend ins Gebäude hineinließ.

Als ich mit Dima das Aufnahmestudio betrat, war ich begeistert. So viele Knöpfe, die man betätigen konnte. Ein Blinken da, ein Leuchten dort! Mit offenem Mund und ohne das Cockpit aus den Augen zu lassen, setzte ich mich langsam in den Sessel. Innerhalb kurzer Zeit verwandelte sich mein offener Mund in ein verschmitztes Grinsen: Ich fühlte mich wie der Kapitän eines Raumschiffs. Mit der sogenannten Tastatur konnte ich meinen Namen auf einem der Bildschirme ausgeben lassen (auch wenn das Eintippen tausend Jahre dauerte).

Dann diktierte mir Dima ein paar Worte mit Geburtstagsglückwünschen an Mama. Anschließend sprach er diesen Text in ein Mikrofon. An ihrem Geburtstag wurde meine Mama dann morgens beim Frühstück mit unserer Geburtstagsgratulation im Radio überrascht. Sie freute sich darüber sehr.

Karaoke mit Großeltern

Am Ende des Herbstes kamen Galja und Gogi aus Usbekistan für zwei Wochen zu Besuch. Ich erinnere mich daran, wie Mascha, Galja und ich Karaoke gesungen und gleichzeitig getanzt hatten, während unser Videorecorder ein Lied von den Bremer Stadtmusikanten abspielte. Gogi saß meistens daneben, probierte verschiedene Biersorten aus und hatte dabei ein breites Grinsen im Gesicht. Tatsächlich gelang es ihm in diesen zwei Wochen, alle Biersorten auszuprobieren, die es in Asow gab.

Die Weihnachtsveranstaltung

Im Dezember fand an meiner Schule eine besondere Veranstaltung statt. In einem kleinen Theaterstück mussten die Schüler den Djed Moros (Väterchen Frost) retten, um dann Weihnachtsgeschenke zu erhalten. Einige Wochen vor der Veranstaltung wurden die Rollen verteilt und wir lernten unsere Texte auswendig. Zuhause nähte meine Mutter einen passenden Plüschschwanz für mich, der zu meiner Rolle als Bösewicht, einem Wolf, gehörte. In dem Stück versuchte ich, eine allein wandernde Freundin von Pinocchio zu fressen. Doch sie wurde rechtzeitig von Pinocchio und seinen Freunden gerettet, indem sie mir einen Sack über den Kopf zogen.

Ich spiele einen Wolf in der Schule.

Ein paar Tage später, am einunddreißigsten Dezember, wurden wir zu Hause beschenkt. Der Djed Moros, der an unserer Tür klingelte und seine Snegurotschka mitbrachte, entpuppte sich schnell als Dima. Die Snegurotschka, die ich zum ersten Mal sah, war eine Arbeitskollegin von Dima, auf die Mama manchmal eifersüchtig war. Wegen ihr gab es zwischen meinen Eltern gelegentlich Streit. An diesem Feiertag tat Mama jedoch so, als wäre die Snegurotschka eine wunderbare Person.

Nachdem ich ein Wintergedicht Schneeflocken-Tanz von Tatjana Volgina aufgesagt hatte, holte der Djed Moros aus einem roten Sack einen Zauberwürfel, ein bebildertes Buch über UFOs und eine Art metallisches Lego hervor und überreichte es mir. Mascha erhielt eine Puppe und einen pinken Kinderwagen zum Spielen.

Mein Walkman

Alexander Fufaev mit seinem Walkman und seiner Schwester auf dem Schulhof

Galja und Gogi kamen erneut aus Usbekistan zu Besuch. Gelegentlich begleitete ich Gogi zur Kirche oder zum Fluss Don, wo ältere Jungs von der Brücke ins Wasser sprangen. Ich prahlte immer damit, dass ich das auch könnte, und behauptete, dass ich nur meine Badehose vergessen hätte. In Wahrheit hätte ich mich aufgrund meiner Angst vor tiefem Wasser niemals getraut, obwohl ich mittlerweile schwimmen konnte. Asow, Fluss Don

Eines Tages, als ich mit Gogi auf dem Asowschen Basar war, kaufte er mir einen olivfarbenen Walkman mit Kassetten. Stolz trug ich ihn am Gürtel befestigt bei meinen Abenteuern in Asow. Gogi versprach mir, noch mehr coole Sachen zu kaufen; ich musste nur abwarten, bis er mit Galja nach Asow zog. Und tatsächlich taten sie das bald, und damit bewahrten sie mich vor den immer heftigeren Konflikten zwischen meinen Eltern...