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Panickattacken und innere Leere

Herbst 2019. In dieser Zeit war meine Beziehung mit Jule ein Auf und Ab. In Tiefphasen verbrachten wir nicht viel Zeit miteinander. So wie im September 2019. Ich verbrachte die meiste Zeit in meinem Zimmer und versuchte in League of Legends in gewerteten Spielen den Rang »Diamant« zu erreichen. Ein gewonnenes Spiel löste bei mir Glücksgefühle aus. Eine Niederlage spornte mich dagegen an, bis spät in die Nacht wach zu bleiben und nach dem nächsten Sieg zu jagen. Ich war sehr oft allein zu Hause. Laura war nie da oder in ihrem Zimmer und meine Mutter war regelmäßig bei ihrem Freund Jochen. Ich fand es gar nicht schlimm - im Gegenteil, so konnte ich in Ruhe zu Hause zocken.

Doch dieses Mal trieb ich mich scheinbar bis zum Limit der Einsamkeit. Meine Mama und Laura waren mit Jochen im Urlaub auf Kreta und die gesamte Woche verbrachte ich komplett allein in den vier Wänden. Ich ging nie raus, nicht mal für einen kleinen Spaziergang. Ich duschte selten und aß nur Toasts am Morgen, vegetarische Pizzen aus dem Gefrierfach und schlürfte den gesamten Tag am Kaffee. Die ersten drei Tage allein verliefen gut. Doch am vierten Tag wachte ich in der Nacht auf. Schweißgebadet. Mein Herz raste und ich hatte Todesangst. Enge in der Brust. Egal, wie ich mich hinlegte, ich spürte meine Halsader pochen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich einen Herzinfarkt bekommen. Ich war kurz davor einen Notruf zu tätigen. Ich stand auf, holte mir aus der Küche ein Glas Wasser und ging auf den Balkon, um frische Luft zu schnappen. Eine halbe Stunde später konnte ich mich beruhigen und wieder einschlafen. Ich wusste in dem Moment noch nicht, dass es erst der Anfang des schlimmsten Monats meines Lebens sein wird.

Am nächsten Morgen wachte ich in einem Gefühl der inneren Leere auf. Irgendwie lethargisch. Ich stand auf, putzte die Zähne, schmierte mir ein paar Toasts, machte Kaffee und setzte mich mit dem Essen direkt an meinen Schreibtisch, um mir beim Essen auf YouTube anzuschauen, wie League of Legends Pro's spielen. Dieses Mal verlor ich viele Spiele und machte daher eine Pause, um aus diesem Loose-Streak herauszukommen. Ich schloss das Spiel und schaute mir weiter YouTube-Videos an, während ich eine vegetarische Pizza, die ich mir zuvor beim Dönerladen aus Borsum bestellte, aß.

Nach dem Essen wurde ich müde und legte mich kurz aufs Bett. Draußen scheinte die Sonne und die Sonnenstrahlen schienen genau in mein Gesicht. In die Decke starrend, hörte ich nichts außer meinem Atem. Es war sehr leise. Wie aus dem nichts fing mein Herz an zu rasen. Ich legte meine Hand aufs Herz und spürte, wie es mal schneller, dann aber wieder langsamer schlug. Ich bekam wieder eine Enge in der Brust und es fiel mir schwer zu atmen. Ich dachte, ich würde gleich sterben. Diesmal brachte der Balkon und das Wasser nichts. Ich nahm mein Handy, legte mich im Wohnzimmer auf den kalten Boden, weil es mir heiß und schwindelig wurde. Ich zögerte den Notruf zu tätigen. Mein Verstand sagte mir, dass es nicht ernst genug war. Es war nur Einbildung. Die mildere Form hatte ich bereits schon mal vor einigen Jahren gehabt. Stattdessen rief ich den ärztlichen Notdienst an. Danach konnte ich mich etwas beruhigen. Doch das Herz schlug weiterhin schnell. Ich lag auf dem Boden da, bis nach dreißig Minuten es bei mir an der Tür klingelte. Es war der Arzt mit einer Arzthelferin. Ich lud ihn in die Wohnung ein. Ich erklärte ihm mein aktuelles gesundheitliches Befinden. Ich hatte mich beruhigt, spürte aber immer noch in der Brust, ohne sie anzufassen, wie schnell mein Herz schlug. Im Wohnzimmer, auf dem Sofa sitzend, maß er meinen Blutdruck und meinen Puls.

»Sie haben einen zu hohen Puls von 190, sie müssen sofort ins Krankenhaus«, sagte der Arzt zu mir.

Ich wurde etwas besorgt. Er bestellte für mich einen Taxi und gab mir einen Schein, mit dem ich mich kostenlos bis zur Notaufnahme fahren konnte. Er blieb eine Weile bei mir und fragte mich über mein Leben nach, bis das Taxi kam. Ich packte noch ein paar Klamotten in meinen Rucksack, falls ich in der Notaufnahme länger bleiben sollte, und der Taxifahrer brachte mich in die Notaufnahme. Dort wurde ich nach der Anmeldung geröntgt und danach auf einem Bett liegend, an verschiedene Geräte angeschlossen, bei denen ich nicht wusste, wofür sie da waren. Nach der Untersuchung lag ich da allein in einem Zimmer und wartete stundenlang, bis ich meine Ergebnisse bekam. Ich fühlte mich ruhig in dieser Sicherheit. Irgendwann kam eine Arzthelferin, um mir zu verkünden, dass ich nichts Auffälliges hatte. Also fuhr ich mit dem Taxi wieder nach Hause.

Jule schrieb in dieser Zeit an ihrer Masterarbeit, ich wollte sie nicht stören. Daher verbrachte ich diese letzte Nacht, bevor Mama zurückkam, allein. Ich hatte Angst schlafen zu gehen, weil ich wusste, was mich erwartete. Ich blieb bis spät in die Nacht wach am Zocken, bis ich irgendwann so müde wurde, dass ich beim Eindösen fast auf die Tastatur fiel.

Mit weit aufgerissenen Augen wachte ich schweißgebadet auf dem Rücken auf. Meine Arme seitlich ausgestreckt. Der eine Arm hing über dem Bettrand. Es fühlte sich an, als hätte ich in dieser Position ein Tor zu meiner Seele eröffnet und jeder könnte in sie eindringen. Schnell zog ich meine Arme und Beine zusammen, legte mich mit dem Gesicht zur Wand und bedeckte mich bis zum Kopf mit der Decke. Ich spürte das Pochen am Handgelenk unter dem Kissen. Ich holte die Hand raus und platzierte sie zwischen die Beine. Hier merkte ich das Pochen noch mehr. Das Pochen schien gleich zu bleiben, doch mein Herz raste. Das spürte ich wieder ohne es anzufassen. Todesangst überkam mich. Ich versuchte an einen schönen Strand zu denken, doch dieses Bild wurde von dem masakrierten Gesicht von Regan verdrängt. »Gott, bitte hilf mir«, betete ich, »bitte, ich will nicht mehr«, sagte ich fast heulend. Es hatte funktioniert. Kurze Zeit später wurde ich wieder müde und schlief ein.

Ich wurde von der Türklingel geweckt. Der Wecker zeigte elf Uhr. Mama war wieder zurück aus dem Urlaub. Ich erzählte ihr alles, und sie war überrascht, dass ich es ihr nicht gesagt hatte. Ich wollte sie damit auf keinen Fall im Urlaub belästigen. Ich wüsste ganz genau, wenn ich gesagt hätte, dass ich in der Notaufnahme war, dass sie den nächsten Flieger nach Hause nehmen würde. Diese Nacht, auch, wenn ich diesmal nicht allein war, wurde es nicht besser. Ich wachte in der Nacht auf und hatte so eine Todesangst und Herzrasen, dass ich meine Mutter weckte. Sie konnte mich nicht beruhigen und mir wurde so schwindelig, dass ich mich auf den Boden legen musste, um nicht umzufallen. Meine Mutter rief einen Notarzt an. Kurze Zeit später beruhigte ich mich etwas. Das unregelmäßige Pochen an der Brust war aber immer noch zu spüren. Als der Arzt kam, gab er mir das Beta-Blocker Medikament, mit dem mein Puls stark gesunken wurde. Nach seinem Besuch konnte ich wieder einschlafen. Dieses Medikament nahm ich in Kombination mit einer Schlaftablette die nächsten Tage ein.

Die durch Medikamente vermiedene nächtliche Todesangst übertrug sich auf den Tag. Die Lust am Leben verschwand von Tag zu Tag. Ich saß auf dem Balkon. Die Sonne fiel mit ihren warmen Strahlen auf mein Gesicht. Doch ich saß nur da und starrte in die Ferne und war innerlich leer. Mit Mühe versuchte ich ab und zu mich an einem Insekt an einer Blume zu erfreuen, doch es funktionierte nicht. Ich sah keinen Sinn in meiner Existenz. Ich konnte und wollte nicht mal zocken. Ich, der unaufhörlich essen konnte, hatte kaum Appetit auf etwas. »Du musst essen«, bestand Mama, und ich zwang mich wenigstens ein paar Bissen zu nehmen. Ich hatte zu nichts Motivation. Ich wollte nicht weiterleben. Die Tage waren eine schmerzlose Qual.

Als mir Jule auf WhatsApp schrieb, dass wir uns wiedersehen können, erzählte ich ihr über meinen emotionalen Zustand und das, was passiert war. Sie war etwas sauer auf mich, dass ich es ihr nicht erzählt hatte. Sie kam am selben Tag zu mir, um mir beizustehen. Mama nahm sich frei, und wir fuhren zusammen zum Kardiologen, der ein Langzeit-EKG gemacht hatte. Ich musste ein Messgerät an der Brust vierundzwanzig Stunden lang tragen, auch während des Karatetrainings. Ergebnis der EKG-Untersuchung: Tags im Mittel 90 pro Minute, im Rahmen sportlicher Aktivitäten Frequenzen von 100 bis 160 pro Minute. Nachts im Mittel 82 pro Minute. Keine wesentliche Inzidenz atrialer und ventrikulärer Extrasystolen. Keine Pausen über 3 Sekunden.

Ich war überrascht, dass meine Herzfrequenz während des Langzeit-EKG nachts keine Auffälligkeit gezeigt hatte. Der Arzt empfahl mir, die Beta-Blocker abzusetzen und zu schauen, ob es besser geworden war. Trotz Jules Nähe in der Nacht wachte ich auf und bekam wieder Herzrasen mit Todesangst. Sie kam näher zu mir rüber, umarmte mich. »Saschi, alles ist gut. Ich bin bei dir«, tröstete sie mich und legte ihre Hand auf meine Brust. Neben ihr war es leichter mich zu beruhigen. Diesmal mussten wir keinen Notruf tätigen.

Die nächsten Tage unternahmen wir viel zusammen mit Mama, Jule, und Laura war auch manchmal dabei. Jule nahm sich frei, um bei mir zu sein. Wir waren regelmäßig in der Sonne, spazieren im Wald, entdeckten Käfer und schöne Blumen, mal aßen wir Eis, spielten Badminton oder Karten auf einer Wiese und am Abend, wenn die Angst vor dem Schlafen wieder stärker wurde, machten wir zusammen Yoga im Wohnzimmer, um uns zu entspannen. Vor dem Schlafen schaute ich mit Jule »BigBang Theory« und nahm Baldrian ein. Auch Mascha und Tobi kamen regelmäßiger zum Kaffeekränzchen.

Die nächsten Wochen waren alle für mich da. Ab und zu konnte ich wieder lachen. Im Laufe dieser Wochen lernte ich meine nächtlichen Angstattacken, dank Jules Anwesenheit, zu kontrollieren. Am Tag konnte ich wieder normal essen. Nach und nach wurde ich innerhalb von mehreren Wochen wieder gesund. Jule fuhr wieder nach Hannover, um ihre Masterarbeit zu schreiben. Mittlerweile konnte ich ohne Panikattacken durchschlafen. Es war der schlimmste geistige Zustand meines Lebens, den ich dank meiner Liebsten überstanden hatte. Ich war wohl noch nicht ganz am Ereignishorizont des schwarzen Lochs angelangt.


Zukünftiges Learning aus diesem Lebensabschnitt: In einem depressiven Zustand verstärkte ich diesen Zustand durch negative Gedanken. Dass die Situation durch pessimistische Gedanken nicht besser, sondern nur noch schlimmer wird, ist offensichtlich, auch wenn mir das in dem Moment nicht klar war. Wenn ich aus der Depression herauskommen möchte, sollte ich alles Mögliche tun, um die Depression nicht weiter zu fördern, auch wenn es in der Situation schwerfällt.

Meist ohne zu wissen, dass es effektive Möglichkeiten gibt, um der Depression entgegenzuwirken, verfällt man täglich denselben gewohnheitsmäßigen, depressionverschlimmernden Aktivitäten: bis spät in die Nacht wach bleiben (meistens auch noch vor dem Bildschirm sitzen und sich beschallen lassen), spät essen, ungesundes Zeug essen, lange schlafen, keinen Sport machen, sich komplett sozial abschotten, nicht kuscheln, nach billigen Dopaminkicks durch Computerspiele jagen und dann auch noch sich nicht der Sonne aussetzen.

Ich kann nicht erwarten, mit derselben Lebensweise, die mich in die Depression geführt hat, aus ihr herauszukommen. Ich muss so schnell wie möglich sein komplettes Leben umkrempeln. Dabei sollte ich die zirkadiane Rhythmik des Körpers beachten, das bedeutet konkret: früh genug ins Bett gehen und davor einige Stunden nichts mehr essen, sich täglich dem direkten Sonnenlicht aussetzen. Am besten dabei mit Familie oder guten Freunden etwas Sportliches draußen unternehmen, niemals über Negatives reden, in der Natur sein und Yoga machen. So wird man schneller die sich entwickelnde depressive Verstimmung los.

Am Morgen nach dem Aufwachen und vor dem Schlafengehen sind die negativen Gedanken oft besonders schlimm; hier hilft es, diese Gedanken einmal eiskalt abzuduschen. Durchhalten ist wichtig. Von Tag zu Tag werden sich die neuen Lebensgewohnheiten etablieren, und die Depression wird dadurch vernichtet.




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