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WIEDERGEBURT .
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LEBEN:

Ein Liebesbrief. Umzug nach Borsum. Mein erster YouTube-Kanal über Philosophie und Poesie.

Liebesbrief

2012. Eines Nachmittags beschloss ich, mein Glück bei Clara zu versuchen. Die meisten Schüler hatten schon längst Schluss und die leere Pausenhalle war von Stille durchzogen. Die wärmenden Sonnenstrahlen durchdrangen die großen Fenster der Halle, in der ich ganz aufgeregt darauf wartete, dass Clara in diesem Durchgang erschien. Je länger ich da stand, desto schneller schlug mein Herz. Der Schulgong erschreckte mich. Gleich musste sie kommen. Die ersten Schüler gingen an mir vorbei; wahrscheinlich nach Hause. Dann kam Clara.

»Hey, auf wen wartest du?«

»Eigentlich auf dich, ich wusste, dass du gleich Schluss hast«, erwiderte ich. »Ich habe da etwas für dich geschrieben«, führte ich fort.

Sie nahm den Brief in die Hand und wollte ihn öffnen.

»Warte! TOP SECRET! Öffne den besser zu Hause!«

»Na gut, ich muss auch schon los. Bis später.«, sagte Clara und schaute mich skeptisch an.

Diese Nacht konnte ich nicht einschlafen. Ich starrte im verdunkelten Zimmer an die Decke und dachte die ganze Zeit darüber nach, ob Clara schon den Brief mit meinem Liebesgeständnis gelesen hatte, und wenn ja, wie sie darauf reagiert hatte.

Am nächsten Tag in der Pause wartete ich auf sie auf der Bank und aß mein Pausenbrot. Als sie die Halle betrat, kam sie erst gar nicht zu mir; stattdessen stellte sie sich zu den anderen Nerds. Sie tat so, als würde sie mich gar nicht kennen. Ich erahnte schon, dass es nicht so ausgegangen war, wie ich es mir erhofft hatte. Als ich sie darauf ansprach, sagte sie nur, dass sie kein Interesse an einer Beziehung hatte.

Seit diesem Brief hing sie nur mit anderen Jungs ab. Sie begrüßte mich nicht mal mehr. Alexey war nicht immer da, deshalb verbrachte ich seitdem die Pausen meist allein, während links und rechts verschiedenste Schülergruppen, die Nerds, die Coolen und die Normalos über irgendetwas ununterbrochen redeten.

Ich verstand mich mit allen diesen Gruppen gut, aber es fühlte sich trotzdem irgendwie so an, als wäre ich mit niemandem so richtig auf einer Wellenlänge, sodass sich daraus vielleicht eine Freundschaft entwickeln könnte. Ich versuchte trotzdem, möglichst nicht als Außenseiter aufzufallen. Dazu setzte ich mich nicht zu weit von anderen weg, um insbesondere keine Blicke des durch die Pausenhalle streifenden Aufsichtslehrers auf mich zu ziehen.

Meist tat ich so, als würde ich in einem Buch lesen und deshalb keine Zeit fürs Quatschen haben. Dabei glotzte ich nur in das geöffnete Mathebuch hinein. In Gedanken war ich aber bei Clara, die einige Meter von mir entfernt mit anderen Jungs über etwas sprach und von Zeit zu Zeit lachte. Es kam mir so vor, als würde sie über mich lachen.

Manchmal, wenn ich möglichst unauffällig meinen Kopf anhob, um sie kurz anzuschauen, trafen sich mein und ihr Blick. Dann drehte ich blitzschnell mein Gesicht wieder ins Buch. Manchmal traf sich auch mein Blick mit dem Blick des Aufsichtslehrers. Wahrscheinlich fiel ihm mein Außenseitersein auf. Also ging ich am besten aus der Schule heraus und drehte eine Runde um den Block, bis die Pause vorbei war.

Beim Bummeln durch die Stadt blieb ich vor dem Schaufenster eines Pfeifenladens stehen. Die hölzernen Rauchpfeifen erinnerten mich an Albert Einstein, der auch immer eine Pfeife geraucht hatte. Ich entschloss mich, in den Laden hineinzugehen. Beim Öffnen der Tür verriet eine Glocke, dass ich den Laden betreten hatte. Niemand war an der Kasse. Es war leise und es roch nach irgendeinem aromatischen Tabak.

Plötzlich kam ein alter Mann hinter der Kasse hervor.

»Suchen Sie nach einer guten Pfeife?« In dem Moment dachte ich, wie cool es eigentlich wäre, eine Pfeife zu rauchen und sich dabei wie Einstein zu fühlen.

»Sind Sie noch da?«, fragte er mich nochmal nach, während ich in Gedanken vertieft war.

»Ja, ich möchte erstmal eine günstige Pfeife haben. Ich bin noch ein Anfänger, was das angeht«, brach es spontan aus mir heraus.

Er empfahl mir eine schwarze Pfeife für fünfzig Euro. Dazu Filter, Pfeifenreiniger und Tabak mit Kirscharoma. Es tat mir in dem Moment irgendwie leid um so viel Taschengeld, aber die Erfahrung war es mir dann doch wert. Außerdem häufte sich das Taschengeld bei mir eh an, weil ich nicht wusste, wofür ich es ausgeben sollte – außer mal für eine Milchschnitte oder ein Käsebrötchen.

Am nächsten Schultag ging ich, statt während der großen Pause in der Halle rumzusitzen, vor die Schule, wo sich über achtzehnjährige Schüler und ein paar Lehrer aufhielten und rauchten. Aus meinem Rucksack holte ich meine neue, bereits mit Tabak gefüllte Pfeife heraus und zündete sie an. Nach einigen Zügen entstand eine riesige weiße Wolke, wie bei einem Atompilz, um mich herum und stellte alle anderen Rauchwolken in den Schatten. Damit zog ich die ganze Aufmerksamkeit der Raucher auf mich. Für eine kurze Zeit stand ich plötzlich im Mittelpunkt. Das gefiel mir irgendwie.

»Das ist ja cool, darf ich auch mal ziehen?«, fragte mich ein nebenstehender Raucher.

»Klar.«

Es war immer ein Leichtes für mich, mit verrückten Tätigkeiten die Aufmerksamkeit von anderen zu erlangen, wenn ich das wollte. Aber gute Freundschaften oder eine Liebesbeziehung aufzubauen und diese aufrechtzuerhalten, das klappte nicht in Deutschland.


Zukünftige Learnings aus der Zeit in der 11. Klasse:

  • Ich sollte niemals darauf warten, dass mir etwas, das mich interessiert, von der Schule beigebracht wird. Ich sollte es selbst erlernen!
  • Das Wissen darüber, wie man eine Website erstellt und aufbaut, wird mir später dabei helfen, finanziell frei zu werden.

Borsum

2012. Kurz vor dem Abschluss der elften Klasse, zog ich mit Mama, Mascha und Laura im Frühling in ein benachbartes kleines Dorf namens Borsum. Trotz meiner Überzeugungsarbeit gelang es mir nicht, meine Mutter zu überreden, in die Stadt Hildesheim zu ziehen. Wenigstens war das neue Kaff nicht schlimmer als Lühnde...

Der Grund für den Umzug war ein Konflikt mit dem vorigen Vermieter, der wegen eines Unfalls mit der Spülmaschine entstand. Bei ihr war der Anschluss abgegangen und sie hatte dann die ganze Küche mit Wasser überflutet, was dazu führte, dass Schäden an der Wohnung entstanden waren, die zu einem gerichtlichen Prozess führten. Im Abstellraum breitete sich ein tiefschwarzer Schimmel aus, der immer wiederkam, obwohl wir ihn mit verschiedensten Mitteln zu entfernen versuchten. Niemand hätte es mir geglaubt, aber die Flecken erinnerten mich jedes Mal an kryptische Botschaften, deren Bedeutung ich nie entschlüsseln konnte.

Einige Tage vor diesem Zwischenfall hatten mich Mascha und ihre Freundin Antonia gefragt, wie man die Pikdame beschwört. Sie wollten nämlich auf unserem Hof zusammen mit Lauri in einem Zelt übernachten und dabei etwas Gruseliges erleben. Ich erinnerte mich noch ganz genau daran, wie es damals in Asow war und was wir taten, um die Pikdame in diese Welt zu holen. Ich erklärte ihnen, was sie alles dafür brauchten und warnte sie, dass sie die Zeichnung auf dem Spiegel sofort entfernen sollten, sobald sich jemand unbehaglich fühlte...

Mitten in der totenstillen Nacht durchdrang ein lauter Knall meine Träume, als die Eingangstür mit erschreckender Wucht zuschlug. Ich machte meine Augen weit auf ich vernahm dumpfe Hilferufe aus der Ferne, kaum hörbar und doch so beunruhigend: »Hilfeee, Hilfeee«. Mein Herz begann wild zu rasen, und ohne zu zögern sprang ich aus dem Bett und stürmte zur Eingangstür.

Vorsichtig presste ich mein Ohr an das Holz und erkannte mit Entsetzen, dass es die Stimmen meiner Schwestern waren, die nach Hilfe riefen. Ich schlüpfte hastig in die Latschen meiner Mutter und stürmte die Treppe hinunter auf den Hof. Das Licht der Laterne enthüllte, wie der Nachbar und meine Mutter versuchten, einen massiven Ast vom völlig verwüsteten Zelt zu entfernen.

Das Zelt, dem grausamen Spiel der Natur schutzlos ausgeliefert, war ein Trümmerfeld. Als ich entsetzt zur Baumkrone aufblickte, die drohend im Wind schwankte, spürte ich mit jeder Faser meines Körpers, dass sich dort oben jemand verbarg, doch seine Gestalt blieb im undurchdringlichen Dunkel verborgen. Die Kälte der Nacht drang bis in meine Knochen, und ich war wie gelähmt.

Erst als meine Mutter und der Nachbar meine leicht verletzten Schwestern befreiten, wagte ich mich wie erstarrt zurück in mein Zimmer ins Bett. In der unheimlichen Stille der Nacht hörte ich nur das Ticken der Uhr, die 2:15 Uhr anzeigte. Ich lag noch lange wach da, während meine Hand unwillkürlich auf meine Brust glitt, wo sich unter dem T-Shirt das Kreuz von Gogi befand. Es beschützte mich.

Einige Tage danach geschah der Unfall mit der Spülmaschine und dem schwarzen Schimmel im Abstellraum. Meine Mutter musste für die entstandenen Kosten aufkommen, dabei verdiente sie nicht gerade viel. Nachdem sie selbst erfolglos versucht hatte eine Nachhilfefirma für kleine Kinder zu gründen, begann sie als Altenpflegeassistentin zu arbeiten. Es war eine schwere Arbeit. Sie musste ständig für die erkrankten Mitarbeiter einspringen und an den Feiertagen arbeiten, auch an Weihnachten.

Wenn sie von der Arbeit zurückkam und eine Sache nicht da lag, wo sie hingehörte, dann verwandelte sich meine sehr temperamentvolle Mutter plötzlich in einen brüllenden Godzilla. Das war anstrengend zu ertragen, weshalb ich mir angewöhnte, in diesen Situationen schnell meine Sachen wegzuräumen, staubzusaugen und den Geschirrspüler auszuräumen, um sie wieder zu beruhigen.

Danach musste ich mich allerdings auch selbst erstmal wieder abreagieren – normalerweise mit lauter Musik und einer Pfeife. Disturbed, eine Band, die Alexey immer hörte, war perfekt um mich wieder in den ursprünglichen, ruhigen Zustand zu bringen. Wenn ich bereits traurig war, dann hörte ich eher die Musik aus Harry Potter, Herr der Ringe, Gothic oder World of Warcraft, während ich mich kurz ausheulte. Danach fühlte ich mich deutlich besser.

Ich war sehr nah am Wasser gebaut. Wenn wir Filme wie Romeo und Julia oder Das Leben ist schön im Unterricht schauten, war ich immer so gerührt, dass ich versuchen musste, meine Tränen zu unterdrücken. Ich fand es komisch, vor der ganzen Klasse zu heulen – insbesondere, weil ich zu denken gelernt hatte, dass ein Mann niemals weinen sollte.

Einmal klappte das Unterdrücken nicht und mir liefen unaufhörlich die Tränen beim Vorlesen eines Kriegsgedichts im Deutschunterricht. Vers für Vers sammelte sich in meinem Hals ein dicker Kloß an. Das Schlucken wurde immer schwerer und schwerer. Die Stimme fing an, zu brechen. Dann fielen die ersten Tränen auf den Zettel mit dem Gedicht. Als meine Emotionalität nicht mehr zu verdecken war und die anderen es bemerkt hatten, rannte ich ungefragt aus dem Klassenzimmer heraus und zur Toilette, um dort mein Gesicht zu waschen. Kurze Zeit später klopfte meine Deutschlehrerin an der Toilettentür.

»Alex, ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles gut. Ich versetze mich manchmal nur zu sehr in die Geschichte.«

»Lass dir ruhig Zeit. Wenn du reden möchtest, sag Bescheid«, schlug sie vor und schien einige Sekunden später wieder weg zu sein.

YouTube-Kanal

2012. In den Sommerferien erstellte ich einen YouTube-Kanal, der als Ergänzung zu meiner Website dienen sollte. Ich tat mich schwer mit der Bezeichnung des Kanals, weil auf meiner Website praktisch alles Mögliche zu finden war - von Mathematik, über Politik, Lyrik, Philosophie und Tagebucheinträgen bis hin zu irgendwelchen erdachten physikalischen Experimenten. Es war sehr universell, weshalb mir dann als erstes die Bezeichnung Universalphilosoph einfiel. Nein, das passte nicht wirklich, es ging ja mehr als nur um Philosophie.

Dann dachte ich an Möchtegerngenie. Das klang bescheuert. Auch andere Ideen gefielen mir nicht. Schließlich kam mir der Einfall: »Universaldenker«. Es klang nicht allzu verrückt und repräsentierte gut meine Inhalte. Ohne zu zögern, änderte ich den Namen meiner Website passend zum YouTube-Kanal zu universaldenker.de.

Mit einer kleinen Kamera, die ich im Wohnzimmer in der Schublade gefunden hatte, drehte ich mein erstes Video, das meine Gedanken zu Rassismus enthielt. Mit einer später erworbenen besseren Videokamera, die ich von meinem Geburtstagsgeld kaufte, filmte ich mich beim Quatschen über den Sinn des Lebens, trug meine Gedichte oder die Lyrik Goethes vor.

In einem zugelegten Notizbuch sammelte ich meine Gedanken und Ideen. Einige davon, wie zum Beispiel Videos über den Begriff der Wahrheit, über die Funktionsweise der zwischenmenschlichen Kommunikation oder über die Entstehung des Wissens, arbeitete ich aus und veröffentlichte sie auf YouTube.

Die ersten Leute kommentierten die Videos. Die meisten der Kommentare waren nett. Einige machten sich über meinen Akzent lustig, was ich aber genauso witzig fand, wenn ich mir das Video selbst anhörte.

Die deprimierendsten Kommentare waren für mich die, die behaupteten, dass alles, was ich produziere für den Müll gedacht wäre und ich aufhören sollte, ihre und meine Zeit zu verschwenden. Ich nahm mir jeden Hasskommentar zu Herzen und fühlte mich dann tagelang deprimiert und unmotiviert, weil ich schließlich viel Arbeit in diese Videos steckte. Diese Menschen brachten mich dazu, die meisten Videos und Inhalte wieder zu löschen.

Um mich von den deprimierenden Gedanken zu lösen, rauchte ich meine Pfeife und lauschte dem Vogelgezwitscher auf dem Balkon. So konnte ich mich wieder beruhigen.

Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich an die Hasskommentare. Ich kapierte, dass es eigentlich nur ein paar Menschen waren, denen es anscheinend Spaß machte, mich zu demütigen oder unsachlich zu kritisieren. Ich entschloss mich, jeden, der mich beleidigte, zu blockieren. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass hinter den Hasskommentaren wahrscheinlich Menschen steckten, die private Probleme hatten und deshalb ihren Frust im Schutze der Anonymität an mir ausließen.

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