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WIEDERGEBURT .
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LEBEN:

Hauptschule. Erster deutscher Freund. Klassenkonferenz. World of Warcraft.

Sommer, 2007. In den Sommerferien reisten Mama, Laura, Mascha und ich für ein paar Wochen mit dem Zug nach Russland, um unsere Verwandten wiederzusehen. Von Hannover aus, wo uns Joachim verabschiedete, ging unsere Fahrt über Polen und die Ukraine nach Moskau.

In einem engen Zugabteil, das mit einem Doppelbett und einem kleinen Tisch ausgestattet war, verbrachten wir die zweitägige Reise. Viel Beschäftigung hatten wir nicht. Die meiste Zeit lag ich im Bett und las einen Fantasy-Roman, den ich normalerweise nie angerührt hätte. Ich musste das Buch wohl irgendwann mal von meinem Vater zum Geburtstag bekommen haben, denn direkt auf der ersten Seite stand eine kurze, mit Kugelschreiber verfasste Widmung von Dima. Sowas machte er immer, wenn er mir Bücher schenkte. Leider las ich die Bücher selten. Voller Begeisterung und von einem schön gestalteten Buchcover in den Bann gezogen, fing ich oftmals an, die ersten Seiten zu lesen, bis im Laufe der nächsten Tage ein neues Computerspiel mein Interesse zurückgewann. Das Buch geriet dann in meinem von Computerspielen dominierten Regal für immer in Vergessenheit. Auch dieses Mal reichte die Zugfahrt nicht aus, um den Roman bis zum Ende zu lesen. Alexander Fufaev auf dem Weg nach Russland zu seinen Verwandten

In Moskau erwartete uns Opa Yura, mit dem wir dann zusammen per Zug bis nach Rostow reisten. Dort holte uns Onkel Sascha mit einem neuen, dunkelroten Auto ab. Ich erkannte ihn im ersten Moment gar nicht, weil er jetzt eine Glatze hatte. Es war aufregend, mit ihm nach Hause zu fahren, weil er während der Fahrt immer ein Rennen anstiftete, indem er ein anderes Auto überholte und dann langsamer wurde, bis das andere Auto uns wieder überholte. Dann überholten wir es nochmal; möglichst mit Augenkontakt zum anderen Fahrer. Dies genügte meist, um sein Ego anzukratzen und ihn dazu zu bewegen, uns wieder überholen zu wollen; diesmal jedoch unabhängig davon, wie schnell wir fuhren. Dann begann das Rennen – ganz ohne Sicherheitsgurt.

In Kharkovskiy angekommen, war das rote Auto von Opa Yura nicht mehr da. Stattdessen stand neben dem dunkelroten Opel Vectra von Onkel Sascha Opas neues Auto – ebenfalls ein Opel Vectra, aber in Dunkelblau. Die Großeltern hatten anscheinend eine erfolgreiche Ernte gehabt, während wir in Deutschland waren. Cousine Ksjuscha, Tante Olja, Onkel Sascha und ihr kleiner Sohn Yura sowie Oma Lina empfingen uns mit großer Freude und einem reich gedeckten Tisch. Es war ein unbeschreiblich tolles Gefühl, wieder auf dem Hof zu sein, Ksjuscha und die anderen, vor allem meinen Onkel Sascha, zu sehen und mit ihm eine zu rauchen, während wir an der Technik herumschraubten. Onkel zeigte mir sein neues Auto und wie er es aufmotzen möchte: Mit neonfarbener Beleuchtung unter dem Wagen, einem Spoiler hinten und schwarzen Felgen. Seine Lieblingsmusik von Jurij Schatunov oder Victor Coy spielte, während er mir das Innere des Autos zeigte. Alexander Fufaev mit seinem Onkel im Auto

Yura, der Sohn von Tante Olja und Onkel Sascha, war ein Jahr älter als Laura und schon echt groß. Die beiden alberten gern miteinander herum. Ein paar Tage später wurden sie gleichzeitig in einer orthodoxen Kirche in Asow getauft.

Nach der Zeit bei den Großeltern in Kharkovskyi besuchten Mascha und ich für eine Woche Galja und Gogi in Asow. Gogi schenkte mir auch eine silberne Kette mit einem Kreuz, die er mir damals versprochen hatte.

In Asow klingelte ich auch bei meinen Freunden. Viele von ihnen wohnten nicht mehr da und ich wusste nicht, wohin sie verschwunden waren. Nur mein Freund Sanja wohnte noch dort, öffnete mir die Tür und freute sich riesig mich wiederzusehen.

Nachdem ich den Tag mit ihm verbracht hatte, wurde es dunkel und ich musste nach Hause. Normalerweise wäre ich so spät nicht mehr alleine unterwegs gewesen, doch ich verspürte den Drang, die abendliche Atmosphäre der Stadt noch einmal zu erleben. Ich streifte also noch ein bisschen durch Asow, setzte mich auf eine Bank; an einem Ort, der die ganzen Erinnerungen an meine schöne Zeit in Russland wiederbelebte. Die Straßen, durch die ich einst mit meinen Freunden gebummelt war... Der Park und die Allee, die mich direkt zum Fluss Don führte. In diesem nostalgischen Moment war ich wieder der kleine Junge, der mit seinen Freunden die größten Abenteuer erlebte. Ich kam auf den Gedanken, in Russland zu bleiben. Zu weh tat die Vorstellung, alle zu vermissen, sobald wir nach Deutschland zurückreisten. Ich war fest überzeugt, meiner Mutter zu sagen, dass ich nicht mit nach Deutschland kommen würde, sondern bei Dima in Russland bleiben würde.

Nach dem Besuch bei Galja und Gogi in Asow holte uns Dima zu sich nach Rostow. Er wohnte mittlerweile in einer Zweizimmerwohnung mit seiner Freundin Lena, die er vor einiger Zeit auf der Arbeit kennengelernt hatte. Meine Überlegungen, bei meinem Vater zu bleiben, verstärkten sich über die Dauer dieses Besuchs. Wir unternahmen so viel zusammen, lachten so viel zusammen.

Die größte Überraschung war es, meinen Vater in seinem allerersten Auto zu sehen. Sein Chevrolet strahlte in der Sonne und hob sich von den vielen dunklen Autos ab. Wenn mein Vater – der im Gegensatz zu mir sehr groß war – auf dem Fahrersitz saß, kam es mir vor, als wäre das Auto viel zu klein für ihn. Sein Fahrstil war selbstbewusst. So selbstbewusst, dass man dachte, er würde schon sein ganzes Leben lang fahren.

Mit seinem gelben Chevrolet brachte er uns – nach der Zeit bei ihm – nach Kharkovskiy zurück. Als wir uns verabschiedet hatten, bekam ich einen dicken Kloß im Hals. Und je tiefer die Sonne stand, desto mehr staute sich in mir die Sehnsucht nach meinem Vater an. Erst am Abend, als mein Onkel nach Hause gegangen war, traute ich mich, meine Gefühle auszusprechen. Ich erzählte meiner Mutter, dass ich gerne in Russland bleiben würde. Als Oma Lina und Opa Yura das hörten, überredeten sie mich jedoch, meinen Plan nicht in die Tat umzusetzen. Sie sagten mir, dass ich hier keine berufliche Perspektive hätte. Und so flog ich wieder in das Land zurück, in dem ich nur ungern leben wollte…

Zurück in Deutschland

Ich hatte noch Ferien. Im Vergleich zum aufregenden Urlaub in Russland war es für mich in Deutschland jedoch langweilig. Deshalb tat ich das Einzige, was ich in diesem Land gerne tat: Ich flüchtete zusammen mit meinen Freunden Max, Maxim und Alexey in die Welt der Computerspiele. Dieses Mal in ein von Alexey kürzlich entdecktes Weltraumspiel namens DarkOrbit. Ich war später von diesem Spiel so besessen, dass ich mein Raumschiff per Telefonanruf verbesserte. Daraufhin kam eine Telefonrechnung von fünfhundert Euro ins Haus geflattert. Joachim war überhaupt nicht erfreut darüber und schrie mich zum allerersten Mal an. Das hatte ich zuvor noch nie erlebt. Ich bekam ein richtig schlechtes Gewissen, weshalb ich das Spiel nie wieder anrührte.

»Ich spiele DarkOrbit nicht mehr«, sagte ich zu Max per Skype, während wir Counter-Strike spielten.

»Du bist auch so blöd, so viel Geld für das Spiel auszugeben… Schau dir mal lieber dieses Spiel an.«

Mein Skype machte einen Benachrichtigungston. Er hatte mir einen Link geschickt.

»Schickst du mir wieder irgendwelches versautes Zeug?«

»Nein, wirklich nicht. Das ist ein krass schweres Labyrinth«, antwortete Max auf Russisch und lachte.

Ich minimierte Counter-Strike kurz und öffnete den Link. Er führte auf eine pechschwarze Seite mit der Überschrift Level 1. Darunter befand sich ein helles Labyrinth, entlang dem ich einen quadratförmigen Mauszeiger bewegen konnte.

»Du musst den Mauszeiger bis zum Ende des Labyrinths führen, ohne seine Wände zu berühren.«

Bevor er den Satz beendete, war ich schon beim zweiten Level. Nun war das Labyrinth etwas länger und nicht mehr überall gleich breit. Trotzdem durchquerte ich es ohne Probleme. Beim dritten Level war das Labyrinth noch viel länger und der Gang wurde zum Ende hin so schmal, dass wahrscheinlich schon ein kleines Zucken ausgereicht hätte, um zu scheitern.

Je näher ich den Mauszeiger zum Ziel bewegte, desto langsamer wurde ich. Ich lehnte mich etwas näher zum Bildschirm und wischte noch schnell meine verschwitzte Hand an der Hose ab. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich in Richtung des Ziels, während Max im Hintergrund mal wieder etwas aß und dabei laut schmatzte. Ich wurde noch langsamer, noch vorsichtiger. Kurz vor dem Ende erschien etwas, das in meinem späteren Leben oft in meinen Träumen und Gedanken auftauchte. Ganz egal, ob ich gerade an die Schule, das Essen oder an Computerspiele dachte. Es erschien wie aus dem Nichts als ein scharfes Bild vor meinen Augen; genau in der Gestalt, wie ich es jetzt zum ersten Mal sah. Es war das Gesicht des Mädchens aus dem Film »Der Exorzist«, das von einem Dämon besessen war.

Vor meinen Augen, die zuvor noch konzentriert das Labyrinth angestarrt hatten, flackerten nun im Vollbildmodus ihre massakrierten Züge. Die Lautstärke des durchdringenden Kreischens, das sie beim Erscheinen von sich gab, verursachte in meinen Ohren für einige Minuten ein Piepen, auch nachdem ich die Kopfhörer abgesetzt hatte. Mein Herz raste und ich atmete hektisch. Kurze Zeit später, nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, betätigte ich den roten Knopf an der Steckleiste und saß noch eine Weile wie erstarrt im Sessel. Dieses Gesicht ging mir auch die Tage danach nicht mehr aus dem Kopf. In mir kam immer das komische Gefühl auf, als wäre dieser Dämon auf mich übergesprungen. Erst, als die Ferien sich dem Ende neigten, versteckte sich diese Erinnerung allmählich in den Tiefen meiner Gedanken.

Hauptschüler

2007. Als die Ferien vorbei waren, besuchte ich die Molitoris-Schule in Harsum, nicht weit von Lühnde entfernt. Anfangs ging ich ungern dahin, weil ich dort noch niemanden kannte. Es gab sogar eine Russin, Kristina, in meiner Klasse, mit der ich auf Russisch reden könnte, was ich aber wegen ihres Freunds Ivan nicht tat. Wenn er den Eindruck gewann, dass ich mit ihr flirtete, wäre ich erledigt. Mit meinem neuen Klassenlehrer, Herrn Wiezer, war auch nicht zu spaßen. Er war der strengste Lehrer, den ich je hatte.

Um die Schule zu schwänzen, schützte ich nicht selten Übelkeit oder Bauchschmerzen vor. Manchmal glaubte mir meine Mama nicht, also musste ich mir etwas Besseres einfallen lassen. Ich saß dann beispielsweise eine Weile nah am Ofen oder berührte mit meiner Stirn den warmen Heizkörper, um Fieber vorzutäuschen. Irgendwann konnte Mama meine »Erkrankungen« nicht mehr ernst nehmen und dann hatten wir sogar ab und zu Streit. Um mich um jeden Preis zur Schule zu zwingen, rief sie Dima an. Das war mir dann wirklich unangenehm. Ich wollte nicht, dass mein Vater erfuhr, dass ich keinen Bock auf Schule hatte. Doch nach einem kurzen Gespräch mit ihm, nachdem ich ihm versichert hatte, dass wir heute eh nur Sportunterricht hätten und alle anderen Fächer ausfielen, verstand er mich und beruhigte meine wütende Mutter. Manchmal überzeugte er mich aber doch, zur Schule zu gehen.

Einmal bekam ich auf dem Weg zur Schule tatsächlich Grund, sie zu schwänzen: Ein unerwarteter lauter Knall rechts von mir erschreckte mich, sodass ich meinen Kopf ruckartig herumriss. Jede weitere Bewegung verursachte höllische Schmerzen, sodass ich mit seltsam verdrehtem Kopf nach Hause gehen musste. An der Eingangstür angekommen, klingelte ich. Mama öffnete mir die Tür mit bereits verdrehten Augen.

»Was hast du denn schon wieder?«

»Ich kann meinen Kopf nicht drehen, das tut weh«, antwortete ich jammernd. Sie ließ mich rein. Gut. Diesmal glaubte sie mir zum Glück.

Erst nach einigen Tagen war ich in der Lage, den Kopf zurückzudrehen. Meine Güte, war ich froh darüber, denn mit einem verdrehten Kopf konnte ich nicht richtig zocken, was ich ja normalerweise tat, wenn ich es schaffte, nicht zur Schule zu gehen.

Robert, mein erster deutscher Schulfreund

Nach einiger Zeit freundete ich mich mit Robert aus meiner Klasse an. Er war ein typischer Bad Boy, der gerne seine Muskeln zeigte und sich über andere Schüler lustig machte, wenn sie anders oder schwächer waren. Ich war allerdings auch alles andere als der Durchschnittstyp in der Schule. Ein Gaming-Nerd zu Hause und eher ein Außenseiter in der Schule. Trotz meiner Schwächen hatte ich anscheinend etwas an mir, das mich ebenfalls zu einem Bad Boy machte. Vielleicht, weil ich aus Russland kam und Robert unzählige russische Schimpfwörter, wie »Súka Blyat« oder »Idi Ná Huj« beibrachte, mit denen er dann andere Schüler und Lehrer beleidigte, ohne dass sie ihn verstanden.

Ich verstand mich gut mit Robert, obwohl wir keine gemeinsamen Interessen außer dem Nicht-Aufpassen im Unterricht und Masturbieren hatten. Es gefiel mir zum Beispiel, wie er mich Sascha nannte. Das klang so vertraut und erinnerte mich an meine Freunde aus Russland. Die anderen Schüler nannten mich Alexander, was auch okay war, aber in meinen Ohren eher distanziert wirkte. Und die, die mich Alex nannten, mit denen hatte ich auf freundschaftlicher Ebene gar nichts zu tun. Mit Alex fühlte ich mich am wenigsten angesprochen, wahrscheinlich, weil ich Alex eher mit Alexey assoziierte.

Robert und ich wurden oft aus dem Unterricht geschmissen. Wir durchblätterten während der Stunden das zum Fach dazugehörige Buch, um nach komischen Leuten zu suchen und dann zu sagen »Guck mal, das bist du!« Das Ziel war es, den anderen zum Lachen zu bringen. Alles war witziger, wenn das Lachen verboten war. Nachdem einer von uns zu lachen anfing und auch der andere sich das Lachen nicht verkneifen konnte, wurden wir vor die Tür gesetzt, mit einem lauten...

»RAUS, IHR BEIDE!«

Eines Tages machte meine Klasse einen Schulausflug nach Hannover zu einer Messe. Wir hatten mit Herrn Wiezer vereinbart, dass wir uns alle am Ende der Veranstaltung vor dem Messegelände treffen würden. Robert und ich hatten das natürlich vergessen als wir uns auf der Toilette aufhielten.

Robert war in einer Kabine, und ich war in der Kabine nebenan. Irgendjemand kam in die Toilette und pinkelte ins Pissoir. Es war still, und man konnte nur das Geräusch hören, wie der Pissstrahl auf die Emaille des Pissoirs traf.

Plötzlich hörte ich ein schnelles PLUP PLUP PLUP aus Roberts Kabine, als würde er Steine ins Wasser schmeißen. Wieder Stille. Ich kannte ihn sehr gut und wusste, dass er seine Toilettenminen gezielt mit Absicht abwarf. Ich versuchte krampfhaft, mein Lachen zu unterdrücken und presste meine Lippen zusammen. Nach weiteren Abwürfen folgte ein längerer Kettensägengeräusch, das meine Lachdämme zum Brechen brachte. Ich öffnete meinen Mund und lachte wie ein ächzender Hund. Offensichtlich hörte mich Robert und legte mit weiteren Tönen nach: BSSSSSS BRRR PFFFFFFFFFF. Es war eine wahre Klaviatur der Körpergeräusche, die er zum Besten gab. Diese Komposition brachte das Fass zum Überlaufen. Ich fing an laut zu lachen.

Plötzlich jedoch wurde mein Lachen übertönt, als ein lauter, aber sehr kurzer Furz, ähnlich dem Knall einer Magnum-Patrone, aus der Richtung der Pissoire ertönte. Gefolgt von einem lauten Zuklappen der Tür.

»Was machst du da?«

Ich schaute mich um und sah, wie Robert mit seinem grinsenden Gesicht, kopfüber, durch den Spalt unter der Kabinenwand schaute. Schnell kam ich aus meiner Hocke vom Klodeckel runter und setzte mich wie ein normaler Mensch hin, in der Hoffnung, dass Robert meine Lieblingssitzposition auf der Toilette, die mir etwas peinlich war, nicht gesehen hatte.

»Der Typ hat einfach gefurzt und ist abgehauen«, prustete Robert und lachte dabei so herzhaft, dass ich in einen Lachflash versank und mir beinahe die Tränen kamen. Ich konnte das obere Teil von Roberts Gesicht sehen, das inzwischen so rot war wie eine reife Tomate.

Als Roberts Gesicht unter der Kabine verschwunden war, verstummte unser Lachen langsam. Plötzlich wurde die Stille durch Roberts panische Worte unterbrochen: »Scheiße, wir sind zu spät!«

Schnell zog ich meine Jeans hoch und rannte Robert hinterher, der schon wie ein geölter Blitz aus der Toilette verschwunden war. Ich erreichte den Treffpunkt außer Atem und sah nur Robert da stehen, mit beiden Armen an der Hüfte, nach links und rechts schauend.

»Oh Scheiße, unsere Klasse ist schon weg«, kommentierte ich, und ein leicht panisches Gefühl überkam mich.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Robert ratlos, als ob ich eine Lösung hätte.

»Herr Wiezer hat die Fahrkarten. Hast du denn etwas Geld dabei?«

»Nein, sehe ich so aus?«, antwortete Robert grinsend. Weder Robert noch ich hatten Bargeld oder Handys, um unsere Eltern anzurufen.

»Wir müssen jemanden finden, der ein Telefon hat«, schlug Robert vor.

»Kennst du die Nummer von Herr Wiezer oder von deinen Eltern auswendig?«.

»Hmm, nein. Und du?«

»Ich auch nicht. Wir müssen wohl schwarzfahren«

»Ja, lass machen. Wo ist denn hier der Bahnhof?!«

Uns blieb nichts anderes übrig, als den Weg zurück zum Bahnhof selbst zu finden und dann schwarz zu fahren. Nach einem zweistündigen Fußmarsch, mit Hilfe freundlicher Menschen, die uns den Weg zum Bahnhof wiesen, erreichten wir ihn endlich.

»Wir müssen zum Gleis zwölf«

Der Zug stand bereits da.

»Ich habe eine Idee«, flüsterte ich, als wir vor der offenen Zugtür standen. »Wir gehen jetzt sofort zur Toilette und verstecken uns dort, wenn der Schaffner kommt.«

»Aber der Schaffner wird sehen, dass jemand auf dem Klo ist und wird bestimmt warten, bis wir rauskommen«, brachte Robert seine Bedenken vor.

Die Zugtür schloss sich wieder. Robert überlegte und schaute nach unten. Plötzlich hob er langsam seinen Kopf und starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Was denn?«, fragte ich neugierig, da ich vermutete, dass Robert eine Lösung gefunden hatte.

»Wir schließen die Tür gar nicht ab!«

Ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus, und ohne ein Wort zu sagen, drückte ich den Knopf an der Zugtür, um sie zu öffnen.

Wir stiegen ein und gingen direkt zur Toilette. Auf dem Weg dorthin schlossen sich bereits alle Türen, und der Zug fuhr los. An der Toilette angekommen, standen wir krampfhaft davor und hielten Ausschau nach dem Schaffner. Robert schaute in Fahrtrichtung, und ich in Gegenfahrtrichtung.

»Ihre Fahrkarten bitte!«, hörte ich aus Roberts Richtung. Schnell marschierte ich in die Toilette hinein, Robert folgte mir.

»Bitte geh zu!«, flüsterte Robert, der sich vor Angst fast in die Hose gemacht hatte. So kannte ich den harten Robert gar nicht.

»Psst«, machte ich mit meinem Finger am Mund, um ihm zu signalisieren, dass er leise sein sollte.

Die Toilettentür ging endlich automatisch zu.

»Ihre Fahrkarten bitte«, hörten wir erneut eine undeutliche Ansage, die in der Toilette gedämpft und leise klang. Der Schaffner schien in einem kurzen Gespräch verwickelt zu sein. Robert und ich lauschten gespannt und versuchten, die Position des Schaffners zu erahnen. Nach einer Weile hörten wir kein Gespräch mehr, nur noch die Geräusche des Zugs. Wir lösten uns von der Tür und konnten etwas entspannen. Doch dann geschah es. Jemand betätigte von außen den Öffnungsknopf, und die Tür öffnete sich langsam. Wie erstarrt standen wir da und starrten ängstlich auf die Tür, als würde sie ein Portal in ein Paralleluniversum öffnen. Ein dunkelhäutiger Mann in einem schneeweißen Gewand und einem weißen Kopftuch stand hinter der Tür und schaute uns genauso an, als wären wir Geister.

»Nächster Halt: Harsum«, kündigte eine leise Lautsprecheransage an.

Robert ging an dem Mann vorbei, ich folgte ihm. Der Mann ging hinein und drückte auf den Knopf, um die Tür zu schließen. Während die Tür zuging, stand er immer noch da und starrte uns an. Wir starrten zurück, bis die Tür geschlossen war. Sobald der Zug anhielt, rannten wir sofort heraus.

Nun waren wir endlich am Bahnhof in Harsum.

»Ach, guck mal! Da ist Herr Wiezer«, bemerkte ich.

»Wir sind am Arsch«, antwortete Robert, und wir gingen auf unseren böse dreinblickenden, fast zwei Meter großen Klassenlehrer zu.

»Mitkommen«, forderte er uns mit seiner tiefen, wütenden Stimme auf, ihm zu seinem Van zu folgen. Bevor Robert die Tür schließen konnte, fuhr er los. Er fuhr hektisch - sein alter Van wackelte überall, dröhnte, das Armaturenbrett vibrierte, während wir beide auf dem Rücksitz saßen. Bei jeder Unebenheit wurden Robert und ich nach oben geschleudert. Robert stieß seinen Kopf gegen das Autodach und hielt sich vor Schmerz den Kopf. Wir sahen uns an und hatten denselben Gedanken: Die Autofahrt war zum Totlachen. Aber wir mussten uns zusammenreißen, denn unser Klassenlehrer, der uns böse durch den Rückspiegel ansah, jagte uns große Angst ein. In diesem Moment war uns klar, dass wir in großer Schwierigkeit steckten.

Klassenkonferenz

Wegen diesem Verhalten und anderen Vorkommnissen, wie unserem Zuspätkommen oder dem Rausschmiss aus dem Unterricht, bekam ich zum ersten Mal eine Klassenkonferenz. Dazu wurde ich an einem runden Tisch von allen Lehrern verhört, während sie mich die ganze Zeit anstarrten. Es war kaum auszuhalten; ich musste losheulen. Es war mir nicht mehr erlaubt, neben Robert zu sitzen und Gruppenarbeiten mit ihm zu erledigen. Den letzten Kontakt mit Robert hatte ich am Ende der neunten Klasse während einer Klassenfahrt. Dort waren wir nämlich auf dem gleichen Zimmer.

Durch den fehlenden Kontakt zu Robert bekam ich allerdings mehr Kontakt zu anderen Mitschülern. Marcel, ein sehr fauler aber sehr guter Schüler in Mathematik, brachte mich auf das sogenannte Online-Rollenspiel namens World of Warcraft, dessen Gebühren von zwölf Euro pro Monat ich von meinem Taschengeld bezahlte. Er war ein Schurke und ich ein Paladin namens Excallibur, ein Ritter des Lichts auf der Seite der Allianz. Marcel und ich verbrachten schlaflose Nächte voller Abenteuer in der riesigen Welt von Warcraft. Ich war so vertieft in das Spiel, dass ich sogar vergaß, etwas zu essen. Gut, dass es noch meine Mutter gab, die mir Butterbrote ins Zimmer brachte.

Ich achtete weniger auf mein Aussehen. Meine fettigen Haare wurden schulterlang, weil ich schon länger nicht beim Friseur gewesen war. In der Schule war ich sehr müde, gähnte ständig, und aufpassen konnte und wollte ich überhaupt nicht; stattdessen dachte ich nur an World of Warcraft.

Später erzählte ich meinen Freunden Max, Maxim, Alexey und Thomas, den ich in der Molitoris-Schule kennengelernt hatte, von dem Spiel und sie stiegen auch ein; allerdings auf der gegnerischen Seite der Allianz, der Horde, sodass ich gezwungen war, mitzuziehen. Also erstellte ich mir einen neuen Charakter, ebenfalls einen Paladin auf der Seite der Horde, um mit meinen Freunden zusammen spielen zu können. Und so kämpften wir Seite an Seite – während wir über Skype redeten – gegen die schrägsten Kreaturen, sammelten Gegenstände, erkundeten die Welt und kämpften gegen die Allianz. Es war ein sehr fesselndes Spiel, das uns die reale Welt komplett vergessen ließ.

Trotz World of Warcraft schloss ich in der Klitoris-Schule – wie sie von den Schülern scherzhaft genannt wurde – die neunte Klasse ab und erwarb damit meinen ersten Schulabschluss in Deutschland – den Hauptschulabschluss. Der Abschluss war nur eine Nebensache, denn viel wichtiger war unser Fortschritt in World of Warcraft.

Zusammen mit Alexey, der einen Druiden spielte, brachten wir Siege für die Horde. Später wechselte ich mit meinen Freunden auf die Gegnerseite der Horde, die Allianzseite, wo wir dann endgültig blieben. Dann wurde ich zu einem Menschenmagier mit einem sehr einfallsreichen Namen »Fufaev«.

Als Max keine Lust mehr hatte, die Spielgebühren zu zahlen, verkaufte er seinen Account bei Ebay. Dann verabschiedete sich auch Thomas mit seinem Hexenmeister. Alexey war auch seltener online. Maxim und ich waren die einzigen, die noch aktiv dabei waren. Allmählich verwandelte sich das fesselnde Spiel zu einem reinen Zeitvertreib. Und so ging unsere gemeinsame Zeit in World of Warcraft zu Ende – und mit ihr begann auch unsere Freundschaft zu verblassen. Mein World of Warcraft Charakter, ein Magier

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