WIEDERGEBURT .
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LEBEN:
Hauptschulabschluss und der Wunsch in Russland zu bleiben
2008/09. In den Frühlingsferien und auch in den Sommerferien des letzten Jahres in der Molitoris-Schule reisten wir zwei weitere Male nach Russland. Als ich mit Mascha bei Dima in Rostow war, lernten wir die Eltern von Lena kennen. Ihr Vater war ein Chirurg in der Rostowschen Klinik und hatte ein teures Auto, mit dem wir durch Rostow zu verschiedenen Restaurants, Cafés, zum Bowlen oder zu seiner Datsche fuhren. In Rostow kaufte mir Dima einen Anzug, Lederschuhe, Hemden und Parfüm und schenkte mir ein paar seiner für ihn zu kleinen Krawatten, um einen neuen Kleidungsstil auszuprobieren.
Am Ende der letzten Woche in Russland erfuhr ich indirekt bei einem gewöhnlichen Gespräch zwischen mir, Mascha, Dima, Lena und ihrer Mutter, dass Lena ein Kind erwartete. Die Nachricht stimmte mich aus irgendeinem Grund traurig. Mein Vater hatte dies bemerkt und legte seine Hand um meine Schultern. Das war das vorletzte Mal, als ich so nah bei Dima war, denn ein Jahr später fand unsere letzte Reise nach Russland statt.
Vor der Abreise gab Dima mir sein Lieblingsbuch mit, welches ihm schon in Usbekistan gute Dienste erwiesen hatte. Das rote Buch, dessen Cover mit durchsichtigem Klebeband überklebt war und dessen Seiten bereits vergilbt waren, trug den Titel: Wie man Freunde gewinnt: Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden.
Als wir wieder in Deutschland waren, hatte ich mich an das Land zwar schon längst gewöhnt, doch es gab ein anderes Problem: Die Beziehung zwischen Joachim und Mama bröckelte. Es gab ständig Zoff; hauptsächlich wegen Mamas Eifersucht. Ich war eigentlich immer auf Joachims Seite, weil er stets einen kühlen Kopf bewahrte. Zu uns war er immer gut – es gab also überhaupt keinen Grund, ihn nicht zu mögen. Doch selbst die Versöhnungen nach jedem Streit konnten die Scheidung schließlich nicht verhindern. Zum Glück blieb das Verhältnis zwischen uns allen gut.
Nach der Scheidung zog ich mit Mascha, Laura und meiner Mutter in eine andere Straße, in ein Mehrfamilienhaus. Während dieser Zeit fing ich in einem drei Kilometer entfernten Nachbardorf namens Algermissen mit dem Führerschein an. Da ich kein Fahrrad hatte, musste ich abends zu Fuß zu den Theoriestunden gehen, was ich aber gerne tat. Während des Spaziergangs über den Feldweg, wo ich nichts außer einer kaum befahrenen Straße und den Feldern sah, konnte ich unendlich kreativ werden. Ich hatte dabei keine Musik gehört, und mein Handy, ein Nokia, mit dem ich eh nur telefonieren und SMS schicken konnte, ließ ich zu Hause.
Auf dem Weg nach Algermissen, sobald ich den Feldweg erreichte, sprudelte meine Fantasie von selbst aus mir hervor. Plötzlich war ich in einer neuen Welt versunken. Ich stellte mir mich mit Superkräften vor. Zwei Blitze aus den dunklen Wolken am Himmel schlugen in meine offenen Handflächen ein, die ich beim Gehen vor mir hielt. Der Wind strich durch meine Haare. Plötzlich donnerte es, und eine Gänsehaut überzog meinen gesamten Körper. In diesem Moment fühlte ich mich wie der Herrscher der Blitze, so mächtig, als wäre ich ein Halbgott, der die ganze Welt zerstören könnte. Die Fantasie fühlte sich so unglaublich realistisch an. Diesen Zustand der Vorstellungskraft konnte ich immer erreichen, wenn keine Menschen weit und breit waren und nur ich und die Natur da waren.
Einmal war ich in meiner Fantasie so versunken, dass ich dabei kurz vor Algermissen an einem Straßenübergang fast überfahren wurde. Das Geräusch bremsender Reifen riss mich aus meiner erschaffenen Fantasiewelt.
»Ey, bist du wahnsinnig? Pass doch auf!«, schrie ein Mann aus dem geöffneten Fenster. Mit klopfendem Herzen starrte ich kurz den Mann an, bevor ich mich abwandte und weiterging.
Nach dem Theorieteil konnte ich noch ein paar Praxisfahrten belegen; doch irgendwann konnte es sich meine Mutter finanziell nicht mehr leisten. Seitdem habe ich keine Fahrschule mehr besucht und konnte den Führerschein nie abschließen.
Ehrlich gesagt, hatte ich danach auch keinen wirklichen Drang mehr, den teuren Führerschein zu machen. Auch, wenn das Auto in unserem Kaff an manch einem Tag echt wünschenswert gewesen wäre. Ich wollte ohnehin nur ein Auto besitzen, um es zu pimpen. Sobald ich auf das Gaspedal trete, sollten nicht nur die Ohren betäubt, sondern auch die Luft mit Benzin einparfümiert werden.
Hauptschulabschluss
2009. Nach den Sommerferien besuchte ich die zehnte Klasse der Molitoris-Schule, um auch den Realschulabschluss zu machen. Die größten Probleme bereiteten mir mein komischer Akzent und meine eigene fehlende Überzeugung von meinen Deutschkenntnissen. Ich hatte Angst, einen falschen Artikel zu benutzen oder mich grammatikalisch falsch auszudrücken, woraufhin meine Mitschüler mich auslachen würden. Deshalb blieb ich meist stumm, obwohl ich die Antwort auf die Frage des Lehrers wusste. Diese Zurückhaltung hatte zur Folge, dass ich mich im Unterricht überhaupt nicht mündlich beteiligte und schlechte mündliche Noten bekam. Dieses Schuljahr lief total daneben und ich hatte keine andere Wahl, als die zehnte Klasse zu wiederholen, wenn ich den Realschulabschluss erreichen wollte.
Zukünftiges Learning aus meiner World of Warcraft Zeit: Jugendliche spielen den ganzen Tag Computerspiele, weil die Realität nichts Interessanteres zu bieten hat und nur Schwierigkeiten verursacht.
Was ich von dem Hocken auf dem Klodeckel gelernt habe: Die Hocke ist die anatomisch günstigere Position, um den Darm zu entleeren. Sie reduziert die Möglichkeit von Hämorrhoiden und Verstopfung. Außerdem ist sie hygienischer, da man nicht direkt mit der Toilette in Kontakt kommt. Ganz nebenbei trainiert man die Flexibilität des Körpers. Daher gehe ich schon mein ganzes Leben lang richtig auf die Toilette.
Zukünftiges Learning aus meiner Zeit in Lühnde: Wenn ich geniale Ideen generieren oder in eine fantastische Welt ohne Grenzen eintauchen möchte, gehe ich in die Natur - frei von Menschen und Technik - und mache einen langen Spaziergang.