WIEDERGEBURT .
.
.
LEBEN:
Auf der anderen Seite des WG-Castings
8. August 2023. Um halb sieben wurde ich durch den Drang meiner überfüllten Blase geweckt. Vom Bettdecke-Teppich-Schlafplatz aufstehend, flitzte ich zur Toilette. Ich pinkelte und pinkelte.
»Na, wann tritt es endlich ein?«, schwirrte der Gedanke in meinem Kopf. Doch zu meiner Überraschung bemerkte ich während des langen Wasserlassens kein Schwarzwerden vor Augen. Dieser Zustand trat normalerweise auf, wenn ich morgens zu schnell aus dem Bett aufstand und eine extrem volle Blase entleerte oder nach einem heißen Bad. Dieses Schwindelgefühl begleitete mich schon seit meiner Jugend. Warum wurde mir beim Wasserlassen nicht schwindelig?
»Vielleicht hat das kalte Duschen meinen Kreislauf etwas stabilisiert«, überlegte ich.
Beim Frühstück mit meiner Mutter erzählte sie mir, dass sie heute vorhatte, ihr Handy auszumisten – ihre Shopping-Apps, Telegram und die tausenden Fotos, die sie in den vier Jahren seit dem Besitz ihres iPhones angesammelt hatte. Natürlich freute es mich, dass ich sie durch meine Begeisterung für digitalen Minimalismus angesteckt hatte. Während des Gesprächs empfahl sie mir ein Multivitamin-Nahrungsergänzungsmittel gegen meinen Haarausfall, der ihrer Meinung nach aufgrund eines Vitaminmangelsn entstanden sein könnte. Ich beherzigte ihren Ratschlag und nahm das Multivitamin-Präparat aus der Küche mit.
Auf der Zugfahrt nach Hannover stieß ich auf einen interessanten Artikel, der einen Zusammenhang zwischen Haarausfall und dem Konsum von Kaffee bei einigen Probanden herstellte. Das war ein weiterer Grund, meinen Kaffeekonsum zu reduzieren. Vielleicht reagierte mein Haar ebenfalls auf zu viel Kaffee?
Nach meiner Ankunft in der WG zur Mittagszeit war Lina in der Küche damit beschäftigt zu kochen, während Vanessa noch schnell das Badezimmer reinigte, bevor die Bewerber zum WG-Casting kamen. An diesem Tag kamen insgesamt vier Leute zur Besichtigung. Zuerst die komplett in Schwarz gekleidete, rockmusikliebende Maria, die ihre »an die Hüfte gewachsene Freundin« mitbrachte. Dann Maya, die die introvertierte Version von Maria war. Danach die online zugeschaltete Psychotherapeutin Lara. Und schließlich, leider nur für eine halbe Stunde, meine Favoritin Antonia. Sie hatte Marketing studiert und strebte eine kreativere Richtung an, weshalb sie sich für Modedesign entschieden hatte. Antonia war fröhlich, freundlich, extrovertiert und interessiert.
Nach diesem anstrengenden, langen Casting, bei dem ich mich seltsam fühlte, immer wieder dasselbe von mir zu erzählen, lag ich erschöpft im Bett und dachte darüber nach, bei zukünftigen Castings nicht einfach meinen Lebenslauf herunterzurattern. Stattdessen könnte ich nur das erzählen, was meinem Gegenüber am interessantesten und relevantesten erscheint. Natürlich müsste ich mich zuerst mit der Person auseinandersetzen und ihre Interessen kennenlernen.
In dieser Nacht war ich mal wieder im Dax, obwohl es eigentlich keine gute Idee war, da ich ziemlich erschöpft war. Zwei Kerle, denen ich weismachen wollte, dass ich keinen Alkohol trank, überedeten mich trotzdem mit ihnen einen Tequila zu trinken. Immerhin bekam ich von ihnen auch ein Glas Mineralwasser, um den Geschmack schnell loszuwerden.
»Der Typ dahinter, mein Lieber«, sagte einer von ihnen und legte seine Hand über meine Schulter, »kann zwar professionell tanzen, aber bei Weitem nicht so gut wie du.«
Ein schwarzer Mitarbeiter, der gerade die Scherben und Pfützen am Tresen beseitigte, lächelte mich an, als ich kurz eine Tanzpause einlegte. Mit einem afrikanisch klingenden Akzent sagte er: »Du bist wie ein Gummi, so elastisch. Hast du Knochen?«, und lachte. Ich stellte mich vor ihn hin und tanzte elastisch.
»Keine Knochen. Nur Gummi«, rief ich ihm zu. Er lachte erneut und zeigte dabei seine weißen Zähne, die im Neonlicht besonders glänzten. Als die Tanzfläche etwas voller wurde, tanzte ich mit einer brünetten Frau, wahrscheinlich in meinem Alter. Mit einer Geste zeigte sie Desinteresse. Offensichtlich war sie mit einem Kerl dort, denn sie drehte sich zu ihm und tanzte mit ihm.
Ich setzte mich kurz in der Nähe des DJ-Pultes hin und fühlte mich demotiviert. Plötzlich kam sie auf mich zu und reichte mir ihre Hand.
»Komm!«, rief sie mir zu.
»Nein, danke«, schüttelte ich den Kopf.
»Komm!«, rief sie erneut.
Ich gab nach und reichte ihr meine Hand. Sie führte mich auf die Tanzfläche, legte ihre Arme auf meine Schultern. Ich nahm sie an ihrer schwingenden Hüfte, und wir begannen zu tanzen. Der Tanz wurde immer energischer, bis wir anfingen, mit den Händen herumzuwedeln und herumzualbern. Sie drehte sich um, twerkte direkt vor mir, ich nahm sie von hinten an der Hüfte und stieß sie mit meinem Genitalbereich gegen ihren Po, als würde ich sie bumsen. Die umstehenden Gäste drehten sich zu uns um und fingen an zu pfeifen. Danach drehte sie sich wieder um, küsste mich auf die Lippen, gab mir ein High-Five und kehrte zu dem anderen Kerl zurück.
Ich setzte mich wieder in die Nähe des Pultes und tat so, als wäre nichts passiert. Jetzt jedoch hatte ich eine unglaublich gute Laune, die ich auf der Tanzfläche in den nächsten Minuten zum Ausdruck brachte. Ich tanzte mit allen Gästen, Männern und Frauen, und steckte sie mit meiner guten Laune an. Ich nahm ein großes blondes Mädchen aus einer Gruppe heraus, das mich die ganze Zeit mit staunendem Gesicht ansah, drehte sie zu mir und wir tanzten gemeinsam. Unsere Bewegungen waren zwar asynchron und ungeschickt, aber es schien, als hätte keiner etwas dagegen. Auf dem Weg nach Hause traf ich die Gruppe am Bahnhof wieder und wir machten ein Gruppenfoto, bevor ich in die Straßenbahn stieg.
Learning: Wenn ich mich jemandem vorstellen muss, werde ich nicht einfach die Standardvorstellung von mir herunterrattern, sondern meine Erzählung so weit wie möglich an die Interessen des Menschen anpassen. Das wird dazu beitragen, unsere Gemeinsamkeiten besser zu betonen, und ich werde interessanter wirken.