Alexander Fufaev
Ich heiße Alexander FufaeV und hier schreibe ich über:

8. Juni 2024: Stephanie ist bipolar und ich habe sie im Stich gelassen

8. Juni 2024. Ich bin gegen 8 Uhr aufgewacht. Ich konnte einfach nicht weiterschlafen. Mein Kopf war sehr voll von gestern. Ich habe an Stephanie gedacht. Ich habe meinen Bart getrimmt und den gestrigen Schweiß vom Tanzen abgeduscht. Als ich das Bad verließ, hat jemand an der Tür geklingelt. So als würde die Person wissen, dass ich nun fertig bin im Bad.

Ich mache die Tür im T-Shirt und Unterhose auf. »Alexander?«, ruft Stephanie von unten und ich höre ihre Schritte, wie sie die Treppe hinaufsteigt.

»Ja, komm hoch«, sagte ich ihr.

»Habe ich dich geweckt?«, fragte sie mich und gab mir einen Kuss.

Ich habe so etwas noch nie erlebt, dass eine Frau zu so früher Stunde nach dem Club zu mir kommt. Ich habe mich gefreut, sie wiederzusehen.

Ich zeigte ihr mein leeres Zimmer, in dem nur eine Yogamatte und ein Schlafsack lagen. Sie reagierte nicht überrascht, wie die meisten Menschen, denen ich von meinem Lebensstil erzähle. Das hat mir sehr gefallen.

In der Küche kochte ich ihr einen Früchtetee (den Teebeutel hatte ich mir aus Linas Schrank »ausgeliehen«). Während des Teetrinkens, von dem Stephanie seltsamerweise kaum etwas trank, erzählte sie mir, wie sie Jimmy losgeworden war. Sie saßen auf einer Bank und er wollte ihr eine einzige nicht tätowierte Stelle an seinem Körper zeigen. Er holte seinen untätowierten Penis heraus. Sie stieß ihn weg und ging zu mir.

Sie war sehr müde und gähnte die ganze Zeit. Wir haben uns auf dem 1,5 Meter langen Sofa aneinander gekuschelt und sie ist sofort eingeschlafen. Ich war auch müde, konnte aber nicht einschlafen. Stattdessen versuchte ich zu realisieren, dass nach langer Zeit eine Frau in meinen Armen lag. Ich küsste sie auf den Kopf und auf die Stirn. Manchmal redete sie im Schlaf wirres Zeug, das ich nicht verstand.

Wenn sie aufwachte, wollte sie sofort etwas tun. Sie hatte viel Energie, obwohl sie nur zwei Stunden geschlafen hatte. Und sie war genauso hungrig wie ich.

Von meinem Handy aus versuchte sie, mit ihrem Paypal-Konto bei Liferando zu bezahlen. Das hat aber nicht geklappt, weil sie das Einloggen in den Paypal Account auf ihrem verlorenen Handy bestätigen musste. Dann schlug sie vor, direkt zum indischen Restaurant zu gehen. Dort könne sie vor Ort bezahlen. Ich fragte mich zwar wie, aber ich akzeptierte ihren Vorschlag. Ich wollte sowieso kein Geld mehr für sie ausgeben. Ich habe gestern schon viel Geld im Club und am Stadtstrand ausgegeben.

Auf dem Weg zum Restaurant vergaß sie anscheinend, dass sie Hunger hatte, und wir gingen stattdessen zum Stadtstrand, wo wir uns auf zwei Liegestühle setzten und der Musik lauschten. Ich sitze entspannt neben ihr auf dem Strandkorb und fühle mich in diesem Moment wie ein reicher Italiener. Stephanie hat nämlich italienische Wurzeln.

Mein Hunger war nicht mehr aushaltbar. Ich bin kurz nach Hause gefahren, um meine Karte zu holen und etwas zu essen zu kaufen. Die Karte habe ich extra zu Hause gelassen, weil ich nicht noch mehr Geld ausgeben wollte. Schon gar nicht für Alkohol.

Auf dem Rückweg habe ich eine Falafelrolle und einen Couscous-Salat gekauft. Als ich zurückkam, saß Stephanie da und hat sich umgeschaut. Wir haben zusammen gegessen. Danach wollte Stephanie kurz in die Stadt, um ihre Sachen aus einem Laden zu holen. Ich blieb sitzen. Zwei Stunden später war sie immer noch nicht da.

»Hey, ihr sitzt hier schon seit drei Stunden«, sagt ein Mann vom Eisstand zu mir, »ohne etwas gekauft zu haben. Wir müssen hier Miete zahlen...« Ich unterbrach ihn: »Schon gut, ich kaufe gleich was.« Stadstrand Hannover 2024 Pommesstand

Er ging zurück an seinen Stand und ich holte mir Süßkartoffelpommes mit Mayo. Kurz bevor ich mit dem Essen fertig war, kam Stephanie endlich zurück.

»Wo warst du die ganze Zeit?«, fragte ich erstaunt.

»Schau mich an«, zeigte sie mir ihr Gesicht, das jetzt schön geschminkt war.

»Gefalle ich dir?«, beugt sie sich zu mir und gibt mir einen Kuss auf die Lippen.

»Ja«, küsse ich sie noch einmal, »du gefällst mir.«

Ich gab ihr die restlichen Pommes. Statt sie zu essen, warf sie sie samt Pommes einfach in ihre Tasche.

»Was machst du denn da?«, wunderte ich mich.

»Macht nichts, man kann die Tasche später waschen«, antwortete sie ganz entspannt.

Dieses Verhalten war komisch, aber ich dachte nicht weiter darüber nach.

Sie wollte unbedingt, dass ich zu ihrem Pferd nach Kleinburgwedel mitkomme. Eigentlich war ich müde und hatte keine Energie, aber ich sagte zu. Wir gingen zum Bahnhof.

»Du hast doch keine Fahrkarte, oder?«, fragte ich skeptisch.

»Ich fahre schon seit zwei Monaten ohne Ticket«, antwortete sie entspannt. Ich dachte darüber nach, wie sie es geschafft hat, die ganze Zeit schwarz zu fahren.

Ich stehe neben ihr am Gleis und schaue ihr in die Augen. Sie küsst mich auf die Nase. In diesem Moment fühle ich mich wie ihr Sohn. Schließlich ist sie genauso alt wie meine Mutter. 52. Aber sie sieht eher wie 40 aus. Ihr Verhalten ist eher wie 18.

Sie nimmt die Pommesmayo aus ihrer Tasche und schmiert sie mir auf die Nase.

»Ey«, rufe ich, wische etwas Mayo von meiner Nase ab und schmiere es ihr auch auf die Nase.

Sie lacht, wischt mir die Mayo wieder ab. Ich bei ihr. Sie sieht mich an, fummelt an meinem Gesicht herum. Mal streicht sie mir die Haare, mal hier, mal da, mal da.

Als wir in Großburgwedel ankamen fuhren wir von dort weiter nach Kleinburgwedel. Bis zum Pferd mussten wir noch ein Stück laufen. Meistens ging es über Feldwege oder durch hohes Gras.

Sie redet und redet. Manchmal unterbreche ich sie mit kurzen Kommentaren oder Fragen zu den Pflanzen und Bäumen, die wir auf dem Weg sehen.

»Du kennst dich in der Natur gut aus«, kommentiere ich. Ihre pfiffige Art erinnert mich ein wenig an Jule.

»Als Dorfkind muss man das wissen«, antwortet sie.

Eine kurze Pause auf einer Bank an einem zugewachsenen Feldweg. Sie legt mir die Beine auf den Schoß. Sie macht sich lustig über meine Aussprache von »Rottweiler« als »Rotweiler«. Ich habe nämlich von weitem gedacht, dass der Hund, der an uns vorbeigelaufen ist, ein Rottweiler ist. Zum Glück nicht. Auch hier erinnerte mich Stephanie an Jule, die auch einige deutsche Wörter, die ich aussprach, lustig fand und mich korrigierte. Ich finde das nicht schlimm. Ich lache mit.

Unterwegs hielten wir kurz bei ihrem Freund, einem Russlanddeutschen. Ich hatte in dem Moment keine Kapazität, mich mit anderen Leuten zu sozialisieren. Ich wartete draußen auf der Terrasse auf Stephanie. Nach fünf Minuten war sie wieder da. Ihre ohnehin schon schwere Plastiktüte, die ich mit mir herumschleppte, wurde durch drei dicke Romane mit den Titeln »Die Elfe«, »Die Elfenwinter« und »Die Macht der drei Warrior Cats« noch schwerer.

Es war ein langer Weg bis zum Hof mit ihrem Pferd. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir einen großen Umweg gemacht hatten, um möglichst unauffällig auf den Hof zu kommen. Später bestätigte sich mein Eindruck. Pferdehof Kleinburgwedel

Ich wartete darauf, dass sie ihr Pferd holte. Doch anstatt ihren Schimmel aus dem Stall auf den Hof zu bringen, brachte sie das Pferd ihrer Mutter. Wir saßen zusammen auf der Bank und beobachteten, wie es vor uns graste. Dann ging das Pferd von selbst zurück. Von weitem sahen wir, wie es von zwei Leuten in den Stall gebracht wurde. Kurz darauf kam die Polizei und forderte Stephanie freundlich auf, den Hof zu verlassen, da sie Hausverbot habe.

Das hat mich ein bisschen verunsichert. Auf dem Rückweg erzählte sie mir die ganze Geschichte mit ihrer Familie. Stephanie leidet an einer bipolaren Störung. Was das genau bedeutet, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, da ich mit dieser psychischen Erkrankung keine Berührungspunkte hatte. Die Polizisten befragten sie auch zu einer Tasche, die Stephanie auf der Straße gefunden hatte, und wo diese Tasche jetzt sei.

Nach dem Gespräch fuhren die Polizisten weg. Es dämmerte schon und es wurde kalt, so dass ich Stephanies zweiten Kapuzenpullover anziehen musste. Auf dem Weg ins Dorf wurde es immer dunkler. Dort haben wir den letzten Bus verpasst und sind zwei Kilometer nach Kleinburgwedel gelaufen. Eigentlich wollten wir mit dem Bus nach Fasanenkrug und von dort mit der Straßenbahn nach Hannover. Aber irgendwie sind wir nie zum Bus gekommen, weil Stephanie mal einen Freund im Krankenhaus besuchen wollte, mal die Freunde im Asylheim und als wir bei der Polizei waren, haben wir den vorletzten Bus verpasst.

Es war schon nach Mitternacht. Stephanie lag auf meinem Schoß und schnarchte, während ich mit der Kälte und der Müdigkeit kämpfte. Eine Stunde warteten wir auf den letzten Bus. Ich war überglücklich, als ich ihn endlich sah.

Ich stieg in den Bus und zeigte mein Deutschlandticket.

»Sie gehört zu mir«, sagte ich zum Busfahrer.

»Das geht nicht. Sie brauchen eine eigene Fahrkarte«, sagt der Busfahrer.

Stephanie steigt direkt aus dem Bus und stellt sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor die Bustür. Ich stehe wie angewurzelt neben dem Busfahrer auf der anderen Seite der Tür. Wir schauen uns an. Die Bustür schließt sich. Wir schauen uns immer noch an. Die Starre löst sich. Ich winke ihr mit offenem Mund zu. Sie winkt zurück.

Ich setze mich auf einen Doppelsitz und kann nicht glauben, was ich getan habe. Ja, ich war todmüde, es war arschkalt draußen, ich hatte Hunger und Durst. Aber was habe ich getan? Ich habe Stephanie draußen gelassen. Sie war auch müde und ihr war kalt. Ich hätte ihr eine Fahrkarte kaufen können. Sicher, ich habe in diesen zwei Tagen etwas mehr Geld von meinem Essenskonto ausgegeben, als ich eigentlich wollte, aber ist das eine Rechtfertigung, jemanden mitten in der Nacht in einem Kaff stehen zu lassen? Ich komme mir vor wie ein Arschloch. Ich sitze im Bus und muss fast weinen, weil ich nicht glauben kann, was ich getan habe. Der einzige Trost war, dass Stephanie wenigstens eine warme Jacke trug und ein paar Freunde im Flüchtlingsheim und im Dorf hatte.

Ich hatte immer noch ihren grauen Kapuzenpullover an, weil ich abends allein im Longsleeve zu kalt war. In meinem Rucksack sind ihre drei Romane. Ich habe nicht daran gedacht, sie ihr zurückzugeben. Vielleicht ist es auch besser so, sonst würde sie bei dem Gewicht gar nicht mehr von der Haltestelle wegkommen.

Ich bin heute dankbar:

  • Dafür, dass ich die wichtige Lektion gelernt habe, niemals einen geliebten Menschen in einer Notsituation wegen des Geldes im Stich zu lassen.
  • Für die Körpernähe von Stephanie.