4. Juli 2024: Wohnungsbesichtigung barfuß. Lucy, die große Festival-Göttin. Ernstes Gespräch mit Matilda. Über Borderline lernen.
4. Juli 2024: Wohnungsbesichtigung barfuß. Lucy, die große Festival-Göttin. Ernstes Gespräch mit Matilda. Über Borderline lernen.
4. Juli 2024. ich bin heute wieder gegen 10:00 Uhr aufgewacht. Ich habe gefrühstückt und bin dann direkt nach Hannover gefahren – barfuß. Das Wetter war grau und unbeständig, ab und zu regnete es stark, dann wieder schwach, und zwischendurch zeigte sich plötzlich die Sonne. Es war ein Wetter mit vielen Stimmungsschwankungen.
Eigentlich wollte ich mich „unterm Schwanz“ am Hauptbahnhof mit Noah treffen, dem ich mein Laptop für 800 € verkauft habe. Doch ein starker Regenschauer machte diesen Treffpunkt unpraktisch. Ich habe mich in das öffentliche WLAN des Bahnhofs eingeloggt, um Nachrichten von Noah zu lesen, und habe mich unter das Dach am Bahnhof gestellt, unter dem sich auch viele andere Menschen versammelt hatten.
„Wo sind deine Schuhe?“, fragte mich ein junger Mann neben mir.
„Verloren“, scherze ich, „nein, Spaß. Ich laufe einfach gern barfuß.“
„Oh cool, für mich wäre das nichts.“
„Das habe ich früher auch gesagt.“
Er spendierte mir eine Zigarette, und wir unterhielten uns über das Barfußlaufen.
Mein Handy klingelt. Es ist Noah. Er ist gerade am Kröpcke. Ich schlage vor, dass wir uns direkt am Apple-Gebäude treffen.
Ich verabschiede mich von dem jungen Mann und gehe zum Apple-Gebäude. Zum Glück regnet es nicht mehr. Ich laufe durch die nassen Straßen und Pfützen. Noah winkt mir schon von weitem zu. Ich frage mich, woher er mich kennt, da ich ihm gar nicht gesagt habe, wie ich aussehe. Vielleicht hat er mich gegoogelt und meine Webseite entdeckt.
Wir begrüßen uns mit einem Händeschütteln.
„Wie cool“, sagt Noah und zeigt auf meine Füße. „Als ich in Georgien bei meiner Freundin war, lief sie auch immer barfuß. Aber ich könnte das nicht.“
Ich brachte ein paar Argumente für das Barfußlaufen und erzählte ihm, dass ich früher auch dachte, ich würde niemals barfuß laufen. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn man es noch nie ausprobiert hat.
Noah überprüfte mein Laptop, um sicherzustellen, dass es funktioniert, und überwies mir dann die 800 €. Jetzt hatte ich genug Geld, um die Kaution für die Wohnung und die Übernahme der Möbel für 500 € zu bezahlen.
Ich lief zurück zum Bahnhof, um den Zug nach Hildesheim zu nehmen. Als ich an der Anzeigetafel stand und mir die nächsten Abfahrten anschaute, sprach mich eine ältere Frau an.
„Ich bin auch mal barfuß gelaufen“, sagte sie.
Ich wandte meinen Blick von der Anzeigetafel ab. „Es macht ja auch Spaß!“, antwortete ich, winkte ihr zu und ging zum nächsten Zug nach Hildesheim.
Im Zug dachte ich über Lena nach. Was, wenn sie unser Treffen absagt? Was, wenn sie keine Lust mehr hat, mit mir im Wald spazieren zu gehen, weil sie vielleicht mein Tagebuch entdeckt hat und festgestellt hat, dass ich doch nicht so gut zu ihr passe, wie sie am Anfang dachte?
Ich äußerte einen Wunsch an das Universum: „Liebes Universum, lass mich heute eine rothaarige Göttin kennenlernen.“
In Hildesheim angekommen, hatte ich noch etwas Zeit bis zur Wohnungsbesichtigung. Also schlenderte ich in die Stadtmitte, kaufte mir im Espresso House einen entkoffeinierten Cappuccino to go und ging langsam in Richtung der Wohnung.
Am Haus angekommen, wo die Wohnung lag, standen bereits fünf oder sechs Leute und warteten. Ein Pärchen, das auch die Wohnung besichtigen wollte, sprach auf Russisch, und ich verstand alles. Sie fanden es witzig, dass Deutsche so verrückt sind, barfuß zu laufen. Dabei wussten sie gar nicht, dass ich gar kein Deutscher bin, sondern auch Russe.
Dann kam die junge Frau von der Hausverwaltung.
„Wer möchte als Erstes?“, fragte sie uns.
Ich stand direkt vor dem Hauseingang und meldete mich. Sie machte eine Geste, dass ich ihr folgen soll.
Die Wohnung lag abseits vom ganzen Straßenlärm. Die Lage gefiel mir besser als die der vorherigen Wohnung, die ich besichtigt hatte. Die Küche war genauso groß wie das Zimmer selbst, und es gab einen Gemeinschaftsgarten. Wenn ich dürfte, würde ich sofort hier einziehen. Die Frau von der Hausverwaltung schaute mir zwar ab und zu auf die Füße, aber ihr Blick war eher neutral. Ich frage mich, welchen Eindruck ich bei ihr hinterlassen habe.
Nach der Wohnungsbesichtigung wollte ich nach Hause fahren und ging zum Bahnhof.
Als ich durch den dunklen Durchgang ging, von dem aus die Treppen zu den Gleisen führen, sah ich eine etwa 1,85 m große junge Frau. Ich hatte noch Zeit bis zu meinem Zug, also lief ich durch den Durchgang an ihr vorbei, um noch ein bisschen durch die Stadt zu spazieren. Während ich an ihr vorbeiging, spürte ich, wie mein Herz schneller schlug. Sie stand an der Wand und schaute in Richtung der Treppe zum Gleis hinauf. Sie hatte wunderschöne, rote Haare, die fast bis zur Taille reichten.
Ich ging an ihr vorbei und blieb draußen vor dem Bahnhof stehen. Mittlerweile war die Sonne wieder herausgekommen. Ich wusste nicht, ob ich zurückkehren und sie ansprechen sollte. Lena kam mir in den Sinn. „Ihr seid doch nicht zusammen“, sagte meine innere Stimme, und ich drehte um und ging zurück.
Sie stand immer noch da. Ich ging auf sie zu und sagte: „Hey“.
Sie wandte ihren Blick vom Smartphone auf mich und lächelte mich an. „Hi“, sagte sie und behielt das Lächeln bei.
Selbst wenn sie an der Wand lehnte, war sie mindestens einen Kopf größer als ich. Sommersprossen zierten ihr Gesicht.
„Ich bin eben an dir vorbeigelaufen, bin dann aber draußen stehen geblieben und umgekehrt. Ich wollte nicht später bereuen, dich nicht angesprochen zu haben.“ Ich schaute den Gang entlang und fragte: „Was machst du eigentlich in diesem dunklen Gang hier?“
„Ich habe den Zug verpasst und warte auf den nächsten.“
„Ach so“, sagte ich und schaute auf die Anzeigetafel hinter uns, „wolltest du etwa nach Hannover fahren?“
„Ja, genau. Ich wohne dort.“
„Ah, cool. Ich war heute auch in Hannover und habe dort mein Laptop verkauft. Aber was machst du hier in Hildesheim?“
„Ich studiere hier. Und du?“
Wir kamen ins Gespräch, und ich lud sie auf einen Kaffee ein, während wir beide auf die Öffis warteten.
„Ich habe einen Freund“, antwortete sie auf meinen Vorschlag.
„Also ich hatte nicht vor dich direkt zu heiraten. Erst mal einen Kaffee trinken“
Sie stimmte zu, hatte aber bedenken, dass sie den Zug verpassen würde.
„Wir gehen hier direkt zum Café Engelke um die Ecke.“
„Ich glaube nicht, dass dort vegane Sachen gibt.“
„Ach wie cool, du Lebst auch vegan?!“, reagierte ich überrascht.
Wir haben weiter geredet und sind beim Café am Bahnhof stehen geblieben. Eigentlich wusste ich bereits, dass hier keine veganen Milchalternativen gibt, aber ich wollte mal trotzdem versuchen. Vielleicht ist das Café mittlerweile etwas fortgeschrittener?
Es gab tatsächlich keine Alternativen zu Milch, also gingen wir vor den Bahnhof. Ich stellte mich in die Sonne. Sie wollte mit ihrer blassen Haut nicht in die Sonne und lehnte sich an die Wand im Schatten.
Sie geht, trotz ihrer Höhenangst gern bouldern, aber ihre größte Leidenschaft sind Festivals. Während ich auf dem CSD Fest war, war sie auf dem Rock am Ring Festival.
Ich schaute mir ihre Hand an. Sie hatte eine unglaublich seidige Haut. So eine sanfte Haut hatte ich noch nie erlebt, außer vielleicht bei Matilda. Ihre Hände sind vom Element Wasser. Sie hatte eine gebogene Herzlinie und eine Schicksalslinie, die bis zur Herzlinie reichte, genau wie bei Matilda.
„Du musst sehr emotional sein, also auf jeden Fall emotionaler als ein Durchschnittsmensch“, mache ich eine Vorhersage.
„Ja, das könnte hinkommen.“
Im Laufe des Gesprächs hat sie mir erzählt, dass sie eine Borderline-Störung hat. Was diese Störung genau bedeutet, wusste ich noch nicht. Ich konnte sie auch nicht weiter dazu befragen, weil sie dann auch zum Zug eilen musste. Hätte sie nicht auf die Uhrzeit geschaut, dann hätte sie den Zug verpasst.
Direkt danach hat mich Matilda aus der Klinik angerufen. Nachdem sie mir erzählt hat, was sie so am Tag gemacht hat, habe ich ihr von Lena erzählt, von der sie die Nummer von meinem Handy gelöscht hat. Ich habe ihr ehrlich gesagt, dass ich Lena treffen werde und dass sich daraus etwas entwickeln könnte. Matilda fand das überhaupt nicht gut und hat gesagt, dass sie dann direkt den Kontakt zu mir abbricht. Ich habe ihr gesagt, dass es in Ordnung für mich wäre, wenn sie nicht mit mir befreundet sein will. Eine Beziehung mit Matilda kann ich mir leider nicht vorstellen, das habe ich ihr auch gesagt. Das scheint sie akzeptiert zu haben. Jedenfalls hat sie schnell das Thema gewechselt und von ihrem Exfreund aus England erzählt, wie er heimlich eine andere gevögelt hat.
Zu Hause habe ich ein Bad genommen, mit Duftkerze. Nebenbei habe ich einen Podcast über die Borderline-Störung angehört, um besser zu verstehen, wie Lucy tickt.
Borderline ist eine Störung der Emotionsregulation. Bereits Kleinigkeiten können zum Beispiel zu Wutausbrüchen führen.
Was ich ganz spannend finde, ist, dass Betroffene eine diffuse Angst verspüren (sie wissen nicht, wovor), die sie durch Selbstverletzungen greifbar machen. Selbstverletzung ist eine der möglichen Konkretisierungen dieser Angst. Andere lassen sich zum Beispiel beim Sex würgen, sodass sie Angst bekommen, zu ersticken. Damit wird die diffuse Angst durch eine konkrete Angst vor dem Ersticken ersetzt.