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3. Juli 2022: Jule, guck mal! Ein Adler!

3. Juli 2022. Gegen zehn Uhr morgens wachte ich auf. Als ich aufstand, um Tee für Jule vorzubereiten, wälzte sie sich auf meine Bettseite. Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, während sie noch weiter schlummerte. Mama war bereits beim Frühdienst. In der Küche machte ich Jules Lieblingstee, den schwarzen Ostfriesentee, mit genau einem Teelöffel Zucker. Für mich bereitete ich einen Filterkaffee mit Hafermilch zu.

»Guten Morgen. Guten Morgen. Guten Morgen, Sonnenschein«, sang ich fröhlich, als ich in mein Zimmer ging, um Jule zu wecken.

»Gähn. Guten Morgen, mein Schatz«, gähnte Jule und streckte sich.

»Dein leckerer Tee ist fertig«, sagte ich und gab ihr einen Kuss auf den Mund.

»Okay! Ich komme«, erwiderte Jule und streckte sich noch einmal.

Auf dem Balkon, an einem kleinen Tisch sitzend, frühstückten wir unter einer Markise, die uns vor der prallen Sonne schützte, und genossen die Aussicht auf das Weizenfeld direkt am Balkon. Die am Haus lebenden Meisen flogen um uns herum und sangen, als würden sie uns ein Theaterstück vorführen.

»Hast du denn noch Kontakt zu Mara?«

»Nein, wir haben keinen Kontakt mehr. Wir haben beschlossen, dass es besser ist, meine Beziehung zu dir nicht aufs Spiel zu setzen. Außerdem hat sie jemand anderen kennengelernt.«

»Hast du noch Gefühle für sie?«

Ich schaute vertieft auf das Brötchen, das ich gerade fertig bestrichen hatte, und zögerte kurz.

»Nein, ich habe keine Gefühle mehr für sie. Es war keine Liebe. Wir waren lediglich, wie Mara sagen würde, hormonverseucht.«

Jule lachte. Ein kurzes Schweigen folgte. Sie schaute mir in die Augen, diesmal nicht durch mich hindurch in die Unendlichkeit. Ich bemerkte eine leichte Freude in ihrem Gesicht.

»Oh Jule, guck mal! Ein Adler!«, sagte ich scherzhaft, stand vom Stuhl auf und zeigte mit dem Finger auf einen riesigen Vogel über dem Feld.

»So ein Spinner. Das ist ein Mäusebussard!«, lachte die Vogelexpertin, die nach ihrem freiwilligen ökologischen Jahr alles über Vögel wusste.

»Saschi, wollen wir spazieren?«

»Gerne!«, erwiderte ich und wir räumten noch schnell die Tassen und Teller weg.

Wir schlenderten entlang eines Feldwegs, umgeben von goldenem Weizen und strahlenden Sonnenblumen.

»Oh nein… wir müssen an der Hochspannungsleitung vorbei«, bemerkte Jule, als sie die Leitungen über dem Weg hängen sah.

Jules Schritt wurde immer schneller, je näher wir den Leitungen kamen. Ich passte meinen Schritt an und lachte.

»Ah, Jule, deine Haare!«, neckte ich sie, als wir unter den Leitungen stehenblieben.

Sie fasste sich an die Haare.

»Stimmt doch gar nicht, du Scherzkeks.«

Ich grinste und gab ihr im Gehen einen liebevollen Kuss auf die Wange.

Nach dem Spaziergang spielten wir zu Hause eine uralte Version meines Lieblingsgesellschaftsspiels, Activity, mit Wörtern, die heutzutage nicht mehr benutzt werden. Die Zeit verging wie im Flug.

Am Abend hatten wir zum ersten Mal nach längerer Zeit einen innigen, liebevollen Sex miteinander.

Nachdem Jule kurz geduscht hatte, begaben wir uns ins Wohnzimmer. Sie saß auf dem Sofa, und ich setzte mich auf den Teppich daneben.

»Jule, hast du denn überhaupt noch Lust, mit mir zusammenzuziehen?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja, aber gerade bin ich nicht dafür bereit. Ich hänge immer noch an Shinshu. Und Saschi, bitte, schick mir erstmal keine Wohnungsangebote mehr. Ich muss zuerst meine Gefühlswelt in Ordnung bringen«, erklärte sie etwas genervt.

Leicht traurig senkte ich den Blick. Jule setzte sich neben mich auf den Teppich, in den Schneidersitz. Ich ließ meinen Kopf langsam in ihre Richtung sinken und schloss dabei meine Augen.

»Tot«, kommentierte Jule meinen Fall auf ihre Beine. Das war immer unser Gag, wenn man totmüde aufs Bett fiel und zu nichts mehr zu gebrauchen war.

Jule strich mir sanft durch die Haare, und ein genießendes Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Als ich meine Augen wieder öffnete, blickte ich zu Jule auf. Ich sah diesen wundervollen Menschen, mit dem ich so viele Höhen und Tiefen geteilt hatte. In diesem Moment war ich unglaublich dankbar, so einen wundervollen Menschen an meiner Seite zu haben. Ich schloss wieder die Augen und erinnerte mich an die schönen und bedeutsamen Momente, die uns miteinander verbanden. Jule war eine Frau, die einen nie im Stich ließ. Sie reichte mir in dunklen und kalten Momenten stets die Hand und schenkte mir Licht und Wärme. Sie war eine Frau, bei der ich hundertprozentig ich selbst sein konnte – sogar, wenn ich auf der Toilette war.