WIEDERGEBURT .
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LEBEN:
Das fehlende Fernglas
3. Juni 2023. Es war elf Uhr an einem sonnigen Samstag. Obwohl es eigentlich nicht erlaubt war, hatte ich zwei riesige Taschen Altglas dabei, das sich über wahrscheinlich mehrere Monate angesammelt hatte. Währenddessen wusch die kaum beladene Waschmaschine zu Hause meine Wäsche. Eigentlich könnte ich sie auch von Hand waschen, aber ich hatte keine passende Wanne und fand das Waschen im Waschbecken irgendwie ecklig.
Vor dem Treffen mit Nico, seinem Bruder Leon und seinem besten Freund Tobi, saß ich im Bobo Café am Laptop und trank nebenbei einen BioZisch. Ich hatte noch zwei Stunden bis zu unserem Treffen um vierzehn Uhr, also entschied ich mich, noch zur Conti Mensa zu gehen, um dort zu essen. Da ich danach immer noch viel Zeit hatte, machte ich einen kleinen Spaziergang durch die Stadt. An diesem Samstag waren viele Gruppen unterwegs, die Junggesellenabschiede feierten. Auf dem Weg zu unserem Treffpunkt wurde ich von einer Mädelsgruppe angehalten.
»Hey, könnten wir dich um einen Gefallen bitten?«, sagte eine der vier Mädels.
»Klar, was kann ich für euch tun?«
»Könntest du die Braut für ein Foto küssen?«
»Wo ist denn die Braut?«
Das Mädel zeigte auf eine andere junge Frau, die sich gerade von einer anderen Mädelsgruppe löste und offensichtlich in ihrem weißen Kleid die Braut war.
»Oh, natürlich, gerne«, stimmte ich sofort zu, als ich feststellte, dass die schlanke Blondine wirklich gut aussah.
»Wie machen wir das am besten?«, murmelte ein Mädel zu einem anderen.
»Ich könnte mich vielleicht hinknien und ihre Hand küssen«, schlug ich spontan vor.
»Gute Idee. Das machen wir.«
Mitten auf dem vollen Fußgängerweg nahm ich die Hand der Braut in meine Hand, kniete mich mit einem Bein nieder und küsste ihre Handaußenfläche.
»Bleib kurz so in der Position«, rief eines der Mädels.
»Oh, sehr gerne!«, kommentierte ich mit einem scherzhaften Unterton und schaute kurz zur Braut. Sie lachte.
»Du kannst jetzt aufhören die Braut zu küssen«, rief jemand lachend.
»Vielen Dank für deinen Einsatz. Möchtest du ein Bier?«, fragte mich die Fotografin.
»Ach ne danke, ich trinke keinen Alkohol. Ich wünsche euch noch viel Spaß heute!«, antwortete ich, gab allen Mädels ein High Five und ging mit fünf Minuten Verspätung weiter zum Treffpunkt.
Die drei warteten bereits im Mövenpick-Eiscafé auf mich. Ich entschied mich für zwei Kugeln Heidelbeereis und eine Kugel Zitroneneis - die einzigen veganen Sorten, die es dort gab. Danach schlenderten wir noch in die Altstadt zum Flohmarkt. Da wir alle Singles waren, hielten wir natürlich Ausschau nach potenziellen Partnerinnen. Beim Flohmarkt schlug ich vor, zum Welfengarten zu gehen, vielleicht würden dort attraktive Studentinnen sonnen und wir könnten sie ansprechen. Doch als wir dort ankamen, war es gar nicht so voll wie ich gedacht hatte.
»Schau mal, da sonnt sich eine Brünette. Schade, dass ich sie nicht aus der Nähe betrachten kann. Sie könnte auch 45 sein«, bemerkte Nico und zeigte auf eine Frau, die etwa hundert Meter entfernt auf der Wiese lag.
»Ja, das könnte stimmen. Aber der Körper sieht recht jung aus«, kommentierte Tobi.
»Hat einer von euch zufällig ein Fernglas dabei?«, scherzte Nico in einem halb ernsten Ton. Wir lachten.
»Ich betreibe sicher keinen Voyeurismus«, antwortete Tobi mit ernster Miene und tat so, als würde er durch seine zu Röhren geformten Hände, die ein Fernglas darstellen sollten, auf die Wiese schauen. Wir machten ihm nach.
»Ich kann nicht so gut sehen. Lasst uns lieber ein Teleskop aufstellen«, schlug ich vor.
Es folgte lautes Gelächter. Unsere ganze Unterhaltung war gespickt mit Witzen, Sarkasmus, indirekten sexuellen Anspielungen und Wortspielen. Wir hatten ähnlichen Humor und lachten ständig.
Ich überwand mich dann endlich und sprach eine junge Frau an, die auf dem Bauch lag und las. Abgesehen von ihrem attraktiven Po in der Leggings wusste ich nicht, wie sie aussah. Ich probierte trotzdem mein Glück. Ich ging zu ihr rüber und legte mich seitlich vor sie hin, angelehnt am Ellenbogen.
Sie war abgesehen von ihrem knackigen Po nicht mein Typ.
»Hey, lass mich raten, du heißt Julia«, sagte ich spontan.
»Hi, nein«, antwortete sie leicht verwirrt.
»Marie?«
»Nein.« Sie grinste.
»Vanessa?«
»Auch nicht.«
»Wie heißt du dann?«
»Ich heiße Aiste«
»Wie?«
»Aiste.«
»Oh, Aiste hätte ich niemals erraten. Ich heiße Alexander!«, sagte ich und reichte ihr meine Hand.
»Hallo«, erwiderte sie und schüttelte meine Hand. Es folgte eine kurze Pause. In diesem Moment fühlte ich mich etwas cringe, weil ich eigentlich wieder weg wollte. Aber es wäre unangebracht, einfach aufzustehen und zu gehen. Ich blickte an ihr vorbei zu den Dreien, die etwa hundert Meter entfernt standen und unauffällig in meine Richtung schauten, mir zuwinkten.
»Und was liest du da?«
Sie zeigte das Buchcover.
»Ach, diese Lücke…«, las ich vor, »diese entsetzliche Lücke.«
»Hmm, ein Roman…«, kommentierte ich den Titel leicht enttäuscht.
»Mmmm«, nickte sie, und ich merkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie lieber weiterlesen wollte.
»Kannst du mir vielleicht trotzdem ein kurzes Stück daraus vorlesen, während ich hier neben dir liege?«
»Nein, hab gerade keine Lust.«
»Okay, kein Problem. Na gut, tschüss dann!«, sagte ich und stand auf.
»Wünsche dir noch einen schönen Tag!”, rief sie mir hinterher.
Ich rannte zurück zu den Dreien, die mich angrinsten.
»Uh, jetzt bin warm geworden«, sagte ich, als ich bei ihnen ankam.
»Ach, das liegt nur an der Sonne«, scherzte Leon.
»Und wie sieht sie aus?«, fragte Tobi, gefolgt von anderen Fragen, wie es gelaufen war, während wir weiter Richtung Stadtmitte schlenderten.
Dort setzten wir uns noch ins Café Extrablatt. Ich nahm einen pechschwarzen Kaffee, weil ich mich etwas müde fühlte. Die anderen gönnten sich noch einmal Eis. Wir plauderten weiter, scherzten und lachten die ganze Zeit bis neunzehn Uhr.
Die Zeit verflog schnell. Wir verabschiedeten uns. Leon und Tobi fuhren mit der Straßenbahn nach Hause, und Nico fuhr mit seinem Fahrrad. Ich schlenderte noch zum Lavash an der Lutherkirche, holte mir dort mein Abendbrot - einen veganen Döner - und genoss ihn auf einer Bank sitzend. Dabei tankte ich auch ein wenig meine soziale Batterie auf, die erstaunlicherweise gar nicht so viel verbraucht war.