WIEDERGEBURT .
.
.
LEBEN:
Ich besitze nur ein Sockenpaar. Barfuß in der Bibliothek. Und das erste Mal Geld auf der Straße schnorren.
28. Mai 2024. Gegen 9 Uhr bin ich aufgewacht. Wenn ich drinnen schlafe, lasse ich das Fenster weit offen, damit frische Luft reinkommt und es im Schlafsack nicht zu warm wird.
Ich habe immer noch Kopfschmerzen, aber sie sind nicht mehr so stark. Sie treten hauptsächlich am Hinterkopf und an den Schläfen auf, wenn ich meine Augenbrauen abwechselnd hebe und senke. Ich denke, dass die Koffeinentzugserscheinungen bald ganz verschwinden werden.
Gestern, nachdem ich den Laptop ausgeschaltet hatte, habe ich mir überlegt, ein neues Paar Socken zu kaufen, weil sie schon wieder Löcher haben. Aber die Merinosocken sind mit 17 Euro das Paar ganz schön teuer. Wie wäre es, wenn ich nur ein Paar Socken hätte?
Im Sommer und an warmen Tagen ist es kein Problem, mit nur einem Paar Socken auszukommen, da ich hauptsächlich barfuß unterwegs bin und die Socken gar nicht brauche. Wenn die Socken schmutzig oder nach dem Waschen noch nicht trocken sind, kann ich in dieser Zeit die Schuhe ohne Socken tragen. An warmen Tagen mache ich das sowieso.
Und im Winter? Ich weiß, dass manche Leute auch im Winter barfuß laufen. Ob ich das auch kann, weiß ich noch nicht. Angenommen, ich ziehe im Winter das einzige Paar Socken an. Der Fuß hat geschwitzt. Ich muss die Socken waschen. Sobald ich nach Hause komme, wasche ich die Socken. Am nächsten Morgen müssen sie trocken sein. Was muss ich tun, damit die Socken bis morgen trocken sind? Ich kann sie auf die Heizung hängen, wenn sie sowieso an ist. Und wenn nicht? Dann muss ich am nächsten Tag Schuhe ohne Socken tragen oder zu Hause bleiben und warten, bis die Socken trocken sind.
Ich merke, dass ich viel zu viele Ängste habe. Das erinnert mich an unerfahrene Menschen, die immer Ängste haben. Das habe ich besonders beim Übergang zum Barfußlaufen gemerkt. Ich sollte all diese Ängste loslassen. Wenn es andere Menschen in Deutschland gibt, die ohne Socken leben, dann kann ich mir das auch angewöhnen. Es ist also machbar. Ich wage es! Im Gegensatz zu diesen Menschen besitze ich sogar ein Paar Socken.
Und wenn es, aus welchen Gründen auch immer, wirklich nicht geht, dann kann ich mir immer noch ein weiteres Paar Socken kaufen oder von meiner Schwester leihen. Ab heute habe ich nur noch ein Paar Socken, für kalte Tage und besondere Anlässe.
Nach dem Aufstehen auf dem Weg in die Küche ist mir etwas passiert, was ich mir nie hätte vorstellen können. Ich gehe in die Küche und plötzlich spüre ich einen starken, punktuellen Schmerz an der Außenseite meines Fußes. Ich gehe zum Wasserhahn, um meine Trinkflasche zu füllen, und jedes Mal, wenn ich auf den Boden trete, habe ich wieder Schmerzen am Fußrand.
Ich setze mich auf den Stuhl und untersuche meine Fußsohle. Eine kleine durchsichtige Glasscherbe steckt in der Fußsohle. Ich ziehe sie heraus und schaue auf das zerbrochene Weinglas auf dem Küchentisch. Als meine drei Mitbewohner neulich in der Küche getrunken haben, hat Lara das Weinglas zerbrochen. Anscheinend lagen noch einige Scherben auf dem Boden. Ich habe mich beim Barfußlaufen an einer Glasscherbe verletzt, nicht draußen, sondern zu Hause. Ist das nicht verrückt?
Auf dem Weg zum Conti Campus habe ich das löchrige Sockenpaar weggeworfen. Auch die Schlüsselverlängerungen am Rucksack habe ich wieder abgenommen. Das war eine blöde Kaufentscheidung. Die bringen mir keinen wirklichen Nutzen, außer dem Klempnern und dem zusätzlichen Gewicht.
Mein Verstand hat mich überzeugt, statt Obst oder Gemüse ein Bio-Vollkornbaguette zu kaufen. Ich dachte an die Taubenrettung. Ist Brot nicht auch eine Mangelernährung für den Menschen? Jedenfalls wollte mich der Verstand auch dazu bringen, mir einen Kaffee bei HanoMacke zu holen. Ich fühlte so einen Drang in mir, aber ich überwand ihn erfolgreich. Ich wollte den Koffeinentzug auf keinen Fall verlängern.
Ich habe mich auf eine Bank vor der Mensa gesetzt und das Baguette gegessen. Gestern Abend hat es die ganze Zeit geregnet. Deshalb war es heute etwas kühler. Ab und zu blitzt die Sonne durch die watteartigen Wolken, die fast den ganzen Himmel bedecken.
Dann bin ich zum allerersten Mal barfuß in die Bibliothek gegangen, zu meinem alten Stammplatz im vierten Stock. Mein Stammplatz war besetzt, aber der Tisch nicht. Ich habe mich einfach gegenüber von meinem Stammplatz hingesetzt und weiter an meinem Tagebuch geschrieben, aber auch an dem Buch über den materiellen Detox.
Nach der Bibliothek und einer kurzen Pause auf dem Campus ging ich in die Innenstadt und trank einen Kakao mit Hafermilch im Café »Gottfried's Kiosk« am Holzmarkt, wo wir mit Jasmin die Taubenrettungs-Flyer verteilten. Erst jetzt, in diesem Moment, fällt mir auf, dass sich gegenüber dem Café eine Bar mit dem Namen »Barfuß« befindet. Wie passend, denke ich und wippe mit meinen Barfußfüßen.
Danach saß ich auf einer Bank auf dem Bahnhofsvorplatz, neben zwei linken Göttinnen in Stiefeln und mit gepiercten Nasen, die Passanten um Geld baten.
»Wollen sie mir was schenken?«, fragt das Mädchen die Passanten, die zwar lächeln, aber auch ausweichen. Kaum jemand gibt etwas.
Ich beobachte sie, während ihre kurzhaarige, blonde Freundin neben ihr sitzt und ab und zu mit ihr spricht.
»Darf ich mal ausprobieren?«, fragte ich sie.
Sie schaut mich mit offenem Mund an. »Was? Du?«, fragt sie verwirrt und lacht.
»Okay, warum nicht.«
Sie drückt mir einen schwarzen Metallbecher in die Hand, auf dem »FCK AFD« stand.
»Haben Sie vielleicht 50 Cent?«, frage ich einen Mann.
Er lächelt mich an und geht weiter.
»Haben sie vielleicht 50 Cent für die beiden hübschen Mädchen da drüben?«, frage ich eine Frau. Sie lächelt. »Nein, sorry«.
Zwei ältere Damen kommen auf mich zu.
»Hallo junge Damen. Haben Sie vielleicht eine kleine Spende? 20 Cent 50 Cent? Alles ist willkommen.«
Die beiden lachten. »So jung sind wir nicht mehr.« Eine der alten Damen holt ihr Portemonnaie aus der Tasche.
Ich schaue die beiden an. »Ja, da wird was.«
Die Dame wirft ein 1-Euro-Stück ein.
Ich schaue die beiden linken Mädchen staunend und mit einem breiten Grinsen im Gesicht an. Ich hatte ein krasses Erfolgserlebnis. Ein Glücksgefühl durchströmte meinen Körper.
Ich versuche es noch einmal. Aber es klappte nicht mehr. Ich gab dem Mädchen mit den langen Haaren den Becher zurück. Das Mädchen hat weiter gemacht.
Sie hat eine Caprisonne bekommen. Von einem Mann auf einem Fahrrad bekam sie einen Salat und eine Pizza. Den Salat haben sie einer alten Frau geschenkt, die an den Häusern saß und auch um Geld bettelte.
Sie haben mir von dem Lachgas erzählt, das sie geschenkt bekommen haben. Davon gehen aber stark die Nerven kaputt.
Die beiden sind noch keine 18 Jahre alt und machen gerade ihr Fachabitur. Sie verdienen nebenbei Geld. Eines der Mädchen arbeitet sogar neben der Schule, aber ihre Mutter nimmt ihr das Geld weg, weil sie bei ihr wohnt und auch für die Lebenshaltungskosten aufkommen muss. Deshalb schnorrt sie sich das Geld auf der Straße zusammen, wo sie auch gute Freunde gefunden hat, die sie aufgenommen haben. Wenn sie 18 ist, wird sie endlich ausziehen.
Ein Freund, der auch barfuß geht, hat mir erzählt, dass viele Menschen, die um Geld betteln, gar nicht obdachlos sind. Sie haben einfach nicht genug zum Leben und verdienen sich so etwas dazu. Spannend fand ich, wie er dazu gekommen ist, Menschen um Spenden zu bitten. Er ist ohne Geld in einer fremden Stadt gestrandet und hat um Geld gebeten, um sich etwas zu essen kaufen zu können und ein Zugticket nach Hause zu erschnorren.
Sie haben mir auch von der Bettelmafia erzählt, die hier untwegs ist. Ein Kumpel von denen wurde sogar von ihnen verprügelt, weil sie auch Geld geschnorrt haben. Aber auch untereinander ist die Bettelmafia skrupellos. Einem Mann wurde sogar ein Bein abgehackt, weil er an einem Tag zu wenig verdient hat. Ich habe nur zugehört und war fassungslos.
»Hey, frag mich nach Geld«, sage ich zu dem kurzhaarigen blonden Mädchen, das mich mit ihren Schnorrersprüchen zum Lachen gebracht hat.
Ich entferne mich ein paar Schritte von ihr und gehe an ihr vorbei, als wäre ich ein Passant.
»Haben Sie vielleicht eine antifaschistische Reichsmark als kleine Spende?«, fragt sie mich.
Ich muss fast lachen. Ich greife in meine Hosentasche und ziehe ein 2-Euro-Stück heraus.
»Bitte sehr.«
»Danke. Einen schönen Tag noch«, schauspielerte sie.
Wir umarmten uns nach diesem Schauspiel und ich ging zu Hugendubel, um etwas zu lesen.
Als ich da auf dem Sofa saß und mein Treffen mit der Linksjugend in meinen Laptop schrieb, wollte ich das WLAN ausschalten. Aber dann habe ich gesehen, dass es bei Hugendubel freies WLAN gibt. Das wusste ich gar nicht. Okay, dachte ich, Hugendubel ist jetzt wirklich mein neues Zuhause. Hier gibt es sogar kostenloses Internet.
Ich ging in das Buchladen-Café »Coffee Friends«, bestellte mir »Vegan Hazelnut Chocolate« mit Hafermilch und setzte mich an einen kleinen runden Tisch.
Ich dachte über das Treffen mit den linken Mädchen nach. Wie wäre es, wenn ich auf der Straße meine Handlesekunst gegen eine kleine Spende anbiete, die sich interessierte Passanten selbst aussuchen können? Je besser ich im Handlesen werde, desto mehr würden die Leute wahrscheinlich spenden. Ein spannender Gedanke. So würde ich meine Handlesefähigkeiten trainieren. Ich merke gerade: Von Tag zu Tag fühle ich mich mehr mit den Menschen um mich herum verbunden. Eine schöne Veränderung.
Bis 17 Uhr war ich bei Hugendubel, dann ging es zurück in die WG. Als ich am Vahrenwalder Platz ausstieg, sah ich eine ältere, etwas dickere Frau, die ihre Schnürsenkel nicht gebunden hatte. Ich hatte die Befürchtung, dass sie darüber stolpert. Ich habe sie eingeholt und an der Shulter angetippt.
»Dein Schnürsenkel ist offen.«
»Oh, danke«, sagte sie und bückte sich, um den Schnürsenkel zu binden.
Zu Hause habe ich zum allerersten Mal die Linsen nicht im Kochtopf der WG, sondern direkt in meiner Titan-Brotdose gekocht. Und das hat erstaunlich gut geklappt. Titan leitet die Wärme sehr gut, so dass die Linsen schneller gar waren als in einem Edelstahltopf. Und ich brauchte den Topf hinterher nicht abzuwaschen. Noch grüne Bohnen, Olivenöl und geschroteter Leinsamen rein und fertig war das Essen für morgen. Einfach genial. Ich liebe meine Brotdose aus Titan!
Vor der Laptop-Downtime habe ich mir noch ein Motivationsvideo angeschaut, um nicht wieder zum Kaffeetrinker zu werden. Ich habe etwas Neues über Koffein gelernt: Koffein bindet B-Vitamine und hemmt die Eisenaufnahme. Und die Kaffeepflanze schützt sich mit Koffein vor Fressfeinden.
Ich bin heute dankbar:
- Dass ich mich nicht vom Verstand verleiten ließ, einen Kaffee zu trinken.
- Für die Möglichkeit, das Schnorren auf der Straße auszuprobieren.
- Für den leckeren »Vegan Hazelnut Chocolate«.
- Für meinen Mut, meine Socken auf ein Paar zu reduzieren.
Mikroveränderung: Ich besitze nur ein Paar schwarze Socken aus Merinowolle für kalte Tage und besondere Anlässe. An warmen Tagen bin ich meistens barfuß unterwegs. Von heute an werde ich lernen, weniger Socken zu tragen. Ein Paar Socken weniger, um die ich mich kümmern muss (waschen, trocknen, ersetzen, einpacken etc.).