WIEDERGEBURT .
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LEBEN:
CSD: Knutschen mit einem Mann als Heterosexueller?
»Hey Mädels, was ist das eigentlich für eine Demo?«
»CSD?!« antwortete eine von denen, als ob es selbstverständlich wäre, dass man das wusste. Ich bedankte mich und die beiden liefen weiter auf den Friedhof.
Ich beschloss, mir die Demo näher anzusehen. Ich reihte mich in die Menge ein neben einem Fahrzeug mit lauten Lautsprechern, aus denen Musik dröhnte. Es lief gerade das Lied »Rasputin«. Ich fragte einen Kerl neben mir nach einer Zigarette.
»Kannst du eine drehen?«
»Nein.«
Er drehte mir eine Zigarette.
»Hast du denn Feuer?«
»Nein.«
Der Typ lachte und zündete meine Zigarette zwischen meinen Lippen an.
»Danke«, antwortete ich und spürte, wie die Musik bereits mein Selbstbewusstsein steigen ließ.
Die Demo zog in Richtung Steintor. Als wir am Opernplatz ankamen, hatte sich bereits eine große Menschenmenge vor einer Bühne versammelt, wo ein DJ die beliebtesten Chart-Hits spielte. Ein Stück weiter gab es eine kleinere Bühne mit Techno-Musik. Vor den Bühnen erstreckten sich Bierbänke mit Tischen, an denen eher ältere Leute saßen.
Es beeindruckte mich, wie hier die Leute beim Tanzen so viel individueller und kreativer waren. Die Tanzbewegungen waren ausgefallen und einzigartig. Auf der Tanzfläche fühlte ich mich wie zu Hause. Ich war bereits in Tanzstimmung. Mit meinem Rucksack auf dem Rücken und der Yoga-Matte in der Hand, die ich bei meiner Performance mitbenutzte, tanzte ich vor mich hin. Dabei fiel mir eine Frau, wahrscheinlich mitte dreißig auf, die sich mit ihrem Tanzstil deutlich von den anderen abhob. Das faszinierte mich. Ich tanzte in ihrer Nähe, doch sie schien so in ihrem Tanz vertieft zu sein, dass sie ihre Umgebung kaum wahrnahm. Nach einer Weile in der heißen Sonne wurde es mir zu viel. Ich gönnte mir eine Pause im Schatten.
Ein Mann um die Mitte vierzig, mit indischem Aussehen und einem bunten Hawaii-Hemd, sprach mich an. »You’re a really good dancer«, sagte er mit britischem Akzent.
»Thank you«, erwiderte ich.
»You’re a good dancer too«, fügte ich hinzu, da ich ihn auch auf der Tanzfläche gesehen hatte. »Where are you from?« fragte er.
»I'm from Hanover. And you?«
»I’m from London, just visiting Germany. Today is my last day here. Tomorrow I’m heading back.«
»Oh, I hope you had an exciting time at the CSD today!«
»Well, aside from the awesome techno party, not yet.«
»You’re a very charming guy«, fuhr er fort.
Ich wurde leicht rot.
»Oh, I didn’t expect that compliment«, entgegnete ich.
Er trat näher und sah mir tief in die Augen.
»Do you wanna kiss?« fragte er mich plötzlich.
Ich zögerte.
»Nah, sorry, I’m straight«, brachte schließlich aus mir heraus.
»Too bad. Have fun partying!«, gab er mir ein High Five und ging.
Zwei Männer, knapp in Leder gekleidet und mit Schweinemasken auf dem Gesicht, stellten sich neben mich. Einer drückte mir einen Flyer in die Hand. Der Text darauf war lang. Ich drehte den Zettel um und sah einen Mann, der mit Ketten gefesselt war. Ich erschrak.
»Oh, das ist mir zu krass. Aber danke« erwiderte ich, während mich ein schwarzes Schweinegesicht anschaute.
Sie standen immer noch neben mir. Es wurde mir unangenehm, also stellte ich mich etwas weiter weg von ihnen in den Schatten, neben ein Zelt. Ein Mädchen in meinem Alter stellte sich neben mich. Ohne ein Wort zu sagen, reichte ich ihr den Flyer.
Sie betrachtete den Zettel und begann zu lachen.
»Das wäre nichts für mich«, sagte sie.
»Das habe ich mir auch gedacht, als man mir diesen Flyer in die Hand gedrückt hat«, kommentierte ich scherzhaft.
So kamen wir ins Gespräch. Ich erzählte ihr, wie ich zum CSD gekommen war, und sie erzählte mir, dass sie mit ihrem schwulen Freund hier war und dass er gerade auf der Tanzfläche abging. Sie selbst wollte nicht tanzen, meinte sie. Sie kam vom Dorf und war zu schüchtern dafür. Im Gespräch wirkte sie jedoch überhaupt nicht schüchtern.
Sie zündete sich eine Zigarette an und reichte mir auch eine, aber wir hatten kein Feuer. Also fragten wir einen dicken Kerl, der auf der Bank nebenan saß. Sie setzte sich daneben und zündete ihre Zigarette an. Da auf der Bank nicht genug Platz war, blieb ich daneben stehen.
»Komm doch zu mir auf die Bank«, sagte sie und rutschte noch weiter zu dem Kerl. Ich setzte mich neben sie und zündete meine Zigarette an.
»Hast du schonmal auf dem CSD geknutscht?«, fragte ich sie.
»Nein. Und du?«, blickte sie in meine Richtung und sah mich an. Sie war so nah bei mir, dass ich ihren Atem spüren konnte, während sie mich das fragte.
»Ich auch nicht«
Plötzlich küssten wir uns einfach auf die Lippen. Der Kuss wurde leidenschaftlicher und verwandelte sich in einen Zungenkuss.
»Wow, mit meinem längeren Bart, habe ich noch nie eine Frau geküsst«, flüsterte ich.
Marie lehnte sich zu mir und küsste mich erneut.
»Marie, du geile Sau!«, unterbrach uns ein Kerl.
Es war ihr Kumpel, der gerade von der Tanzfläche kam.
»Wollt ihr auch einen Kuss?«, fragte sie uns und sah erst mich, dann ihn an.
»Puh, ich weiß nicht. Eher nicht«, antwortete ich, während ich dachte: Wenn er aussehen würde wie George Clooney, würde ich vielleicht zustimmen.
»Deine Freundin meinte, dass du mit jedem Typen knutschen kannst. Wie wäre es mit ihm?«, fragte ich ihren Freund und zeigte auf einen gut aussehenden, brünetten Mann, der offensichtlich schwul war.
Ohne ein Wort zu sagen, ging er zu dem Mann. Sie unterhielten sich kurz und verschwanden dann in der Menge. Ein anderer Typ, den Marie kannte, holte sie auf die Tanzfläche. Sie verabschiedete sich von mir mit einer Umarmung, und die beiden verschwanden ebenfalls im Getümmel.
Ich saß allein auf der Bank und konnte immer noch nicht fassen, was gerade passiert war. Plötzlich hörte ich ein Stöhnen. Ich drehte mich um und sah eine Frau, die an einem dicken Ast mit Seilen gefesselt war. Ich drehte mich wieder um, mit weit aufgerissenen Augen. Für einen kurzen Moment dachte ich, ich wäre in einer völlig anderen Welt, in der es kaum Tabus gab. Das gefiel mir. Ein breites Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus.
Ich warf einen Blick zur großen Bühne und ging dann auch dorthin. Dort spielte ein Lied von Shakira. Ich tat so, als wäre ich auch Shakira und schwang meine Hüften. Dann zurück auf die Techno-Tanzfläche. Es war etwas umständlich, mit der Yoga-Matte zu tanzen, also legte ich sie beiseite. Meinen Rucksack mit dem teuren Laptop wollte ich nicht unbeaufsichtigt lassen, also tanzte ich damit herum. Ich tanzte mit vielen Frauen, flirtete, scherzte und verteilte kurze Küsschen. Einer Verheirateten gab ich einen Kuss auf die Wange. Mehr wollte sie nicht.
»Sei mal nicht so aufdringlich, okay?«, sagte ein Kumpel der verheirateten Frau zu mir.
»Okay, tut mir leid«, antwortete ich dem Mann und tanzte sofort mit einer anderen Frau.
Ich fühlte mich überhaupt nicht gekränkt. Der Zungenkuss hatte mein Selbstbewusstsein und Glücksgefühl so gestärkt, dass mir nichts peinlich war.
Und so blieb ich bis zweiundzwanzig Uhr auf der CSD-Party. Meine Beine waren vom Tanzen erschöpft. Ich machte mich auf den Weg nach Hause. Vor den Treppen des Opernhauses entdeckte ich eine Frau mit einer Bratwurst, die mir sehr bekannt vorkam. Es war die exotische, in sich gekehrte Tänzerin.
»Hey, du warst die beste Tänzerin auf der Techno-Party«, sprach ich sie an.
»Hey, oh danke. Ich liebe Techno-Partys. Viel besser als diese 0815 Musik, die auf der großen Bühne lief.« Ich kam ins Gespräch mit Lina. Sie war brünett, hatte Sommersprossen, eine süße kleine Nase mit einem Nasenpiercing. Sie war mit ihren Freunden hier, hatte sie aber aus den Augen verloren. Sie erzählte mir, wie sehr sie CSD-Partys liebte. Sie war schon bei vielen dabei gewesen. Am liebsten mochte sie die CSD-Party in Berlin.
»Bist du morgen auch hier?«, fragte sie mich.
»Eigentlich wollte ich produktiv sein. Geht die Party morgen auch bis spät in die Nacht?«
»Ja! Ich werde da sein.«
»Cool, dann sehen wir uns bestimmt morgen wieder. Ich komme vorbei«, sagte ich.
Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung, und mit einem intensiven Glücksgefühl fuhr ich mit der Straßenbahn nach Hause. Ich war so gesprächig und extrovertiert wie schon lange nicht mehr. Es war, als wäre ich eine völlig andere Person. Mir war aber bewusst, dass ich diesen extrovertierten, geselligen Zustand erreichte, wenn ich keine bestimmten Erwartungen hatte, sei es eine Nummer zu bekommen oder jemanden abzuschleppen. Wenn ich einfach nur da war und Spaß hatte, verwandelte ich mich in eine extrovertierte, kontaktfreudige Persönlichkeit, die die Menschen anzog. Ich war so froh, dass ich mich der Demo angeschlossen hatte.