WIEDERGEBURT .
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LEBEN:
Conti Campus Sommerfest 2024. Erstes Mal barfuß tanzen. Gwen, eine Freundin für 10 Minuten.
1. Juni 2024. Ich bin gegen 8 Uhr aufgewacht und habe noch eine Weile im Schlafsack gelegen. Was mir aufgefallen ist: Nach einem Tag, an dem ich mich lange mit jemandem unterhalten habe, wie gestern mit Johanna, habe ich weniger Lust auf Sex. Ich fühle mich viel ausgeglichener, irgendwie satt. Man merkt, dass ich mich nicht nach Sex an sich sehne, sondern nach guten Gesprächen mit Menschen. Die Beziehungen wären allerdings noch bereichernder, wenn man die intimen Gespräche mit Umarmungen, Zärtlichkeiten, Kuscheln und Schmusen verbinden würde.
Nachdem ich meinen Bart gestutzt, meine Unterhose und mein T-Shirt gewaschen und mein Zimmer gefegt habe, bin ich gegen halb elf auf den Campus gegangen. Den Rucksack samt Laptop habe ich zu Hause gelassen, heute wird ein schöner laptopfreier Tag.
Ich hatte Barfußschuhe an, weil ich Angst hatte, dass mir bei den vielen Leuten auf dem Sommerfest jemand auf die Füße tritt oder ich nur eingeschränkt tanzen kann.
In der Nähe des E-Damms ist ein Radfahrer gestürzt. Ich bin direkt zu dem jungen Mann gelaufen und habe ihm aufgeholfen. Weiter auf dem Weg. Ich versuche Natalie anzurufen. Es klingelt, doch dann geht die Mailbox an.
Auf dem menschenleeren Conti-Campus, auf dem schon alles für das heutige Sommerfest aufgebaut war, schloss ich das Longshirt, ein Kondom, das ich auf dem CSD-Fest bekommen hatte, und die Socken im Spind ein. Die Barfußschuhe ließ ich an und schlenderte langsam in die Innenstadt.
Ehrenamtlich tätige Ärzte standen mit Plakaten in der Hand im Kreis um die Schillerstatue. Es war eine Demonstration gegen Massentierhaltung. Auf dem Plakat stand unten die Adresse »probiers-jetzt.de«, die ich mir in der Notizen-App notierte.
An der Kröpcke-Uhr spielten fünf Männer mit verschiedenen Musikinstrumenten und einfarbigen Anzügen. Es schien eine Band zu sein. Ich muss genau am Ende ihrer musikalischen Darbietung angekommen sein, denn sie hörten auf zu spielen und zu singen.
»Um viertel vor zwölf treffen wir uns dort«, zeigt der Mann im rosa Anzug mit dem Finger in eine bestimmte Richtung, »auf dem Opernplatz spielen wir weiter«, sagt er mit einem leichten italienischen Akzent.
Ich gehe auf eine Fotografin zu, die die Band die ganze Zeit mit einer riesigen Spiegelreflexkamera fotografiert hat.
»Hey, weißt du, was heute auf dem Opernplatz los ist?«
»Heute ist das Europafest. Es gibt verschiedene Infostände, Musik und kleine Veranstaltungen«, erklärte sie fröhlich.
Ich bedankte mich und ging zuerst in den Hugendubel, wo ich mir einen veganen Erdbeermilchshake gönnte und dabei das Buch von Eckhart Tolle las.
Beim Lesen habe ich etwas gelernt: Ungeduld, Gereiztheit, Nervosität sind auch Formen von Negativität, die unnötiges Leid verursachen. Bei mir ist die Ungeduld stark ausgeprägt. Nach dem Aufenthalt im Hugendubel habe ich mir eine Flasche »Wostok Limo« gekauft und bin damit zum Opernplatz gegangen.
Auf dem Opernplatz waren wirklich viele Infostände. Ich blieb kurz vor einer kleinen Bühne stehen, auf der vier schwarz gekleidete Mädchen Stepptanz aufführten. Ich musste sofort an Johanna denken, die begeisterte Radfahrerin, die ich gestern getroffen habe.
Ich ging an den Infoständen vorbei, die zum Beispiel über die Geschichte der EU in den verschiedenen europäischen Ländern informierten. Eine Frau lächelt mich an. Sie scheint etwas von mir zu wollen.
»Warum ist dir Europa wichtig?«, fragt sie mich, als ich vor ihr stehen bleibe.
»Gute Frage. Ich muss kurz darüber nachdenken.«
Sie gab mir eine Karte, auf die ich meine Antwort schreiben und in einen Briefkasten werfen konnte.
Ich stellte mich an einen Tisch, nahm eine Karte und schrieb: »Keine innereuropäischen Kriege und Reisen ohne Grenzkontrollen und Visum«.
Ich warf die Karte in den Briefkasten und ging weiter. Ich blieb vor der großen Bühne stehen, wo die fünf Musiker spielten. Ich hörte ihnen eine Weile zu und ging dann wieder zur Kröpcke-Uhr. Ich habe mich außen an die Wand der Rolltreppe gelehnt und zugesehen, wie ein Mann mit nacktem Oberkörper mit Kreide einen bunten Kreis auf die Straße gemalt hat.
Bis zum Beginn des Sommerfestes um 16 Uhr hatte ich noch Zeit, also ging ich zur Strandbar und stillte meinen kleinen Hunger mit den leckersten Süßkartoffelpommes. Danach setzte ich mich auf eine frei gewordene Schaukel, während im Hintergrund lateinamerikanische Strandmusik oder so ähnlich lief. Mit Meeresrauschen und Möwen-Soundeffekten. Ich beobachtete große und kleine Seifenblasen, die ein Mann in der Ferne machte und die in die Luft stiegen. Kleine Kinder kreisten und sprangen begeistert um den Platz. »Kinder sind wie Erwachsene auf LSD«, dachte ich grinsend.
Während ich hin- und herschaukelte, kam eine Frau, wahrscheinlich Mitte vierzig, auf mich zu.
»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie.
»Klar, setz dich«, sagte ich und rutschte auf der Schaukel etwas zur Seite.
Sie setzte sich neben mich auf die Schaukel.
»Wie gehts?«, fragte sie mich.
»Gut, ich sitze hier und chille mein Leben«, antwortete ich.
Sie redete auf mich ein. Als sie an meinem Akzent merkte, dass ich kein Deutscher war, kam sie auf das Ariersein zu sprechen.
»... und ich bin Arier«, sagte sie.
»Das kann ich nicht beurteilen, solange du eine Sonnenbrille trägst.«
Sie nahm die Sonnenbrille ab.
»Ach, grüne Augen«, musterte ich ihre Augen, »ja, du bist Arier.«
»Gut, ich helfe dir, aber nur unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Ich gebe etwas, wenn deine Freundin mir eine Zigarette spendiert«, fuhr ich fort und deutete auf die rauchende Freundin am Tisch.
»Mädels?«, rief sie. Sie drehten sich um. »Bringt mir eine Zigarette«, rief sie weiter.
Ihre Freundin, die zum Junggesellenabschied aus der Schweiz angereist war, brachte eine Zigarette und ein Feuerzeug mit.
»Okay, hier hast du ein bisschen Geld«, holte ich einen 5-Euro-Schein aus meiner Hosentasche, »wo kann ich unterschreiben?«, sagte ich und zog an meiner Zigarette.
»Du hast die Wahl«, sagte sie, streckte ihre Brust heraus und gab mir einen schwarzen Filzstift.
»Wenn einer von denen, die unterschrieben haben, weltberühmt wird«, sagte ich und setzte meine Unterschrift direkt unter ihre Brustwarze, »kannst du das T-Shirt für ein Vermögen verkaufen.«
Sie redete noch eine Weile mit mir und ging dann zu einer Gruppe von Männern, die an einem Tisch saßen. Ich schaukelte noch ein paar Minuten und machte mich dann auf den Weg zum Campus, um zu sehen, ob dort schon was los war.
Auf dem Weg dorthin zog ich meine Barfußschuhe aus. Ich habe mich daran gewöhnt, barfuß zu laufen, und es war zu warm in den Schuhen mit Socken. Scheiß drauf, es wird schon gut sein, barfuß zu tanzen. Ich habe mir auch unterwegs ein paar vegane Frikadellen geholt, um meinen kleinen Hunger zu stillen.
Der Campus war jetzt voller Studenten. Ich schloss meine Schuhe im Schließfach in der Bibliothek ein und holte mir einen Becher Sprite. Leider gab es außer Sprite nur Cola und Bier zu kaufen. Die HanoMacke war zu.
Ich setzte mich im Schneidersitz hin und sah zu, wie die Wirtschaftswissenschaftler auf der großen Wiese Beerpong spielten. Die Musik lief, aber die große Wiese war immer noch abgesperrt. Es wurde mir zu langweilig, die ganze Zeit dort zu sitzen, schließlich wollte ich tanzen. Also bin ich zurück in die Innenstadt gelaufen, um dort noch etwas Zeit zu verbringen.
Am Steintor hörte ich mir eine leidenschaftliche Rede eines dunkelhäutigen Mannes auf Englisch an, die von einer Frau, die neben ihm auf der Bühne stand, übersetzt wurde.
»Beende den Krieg zwischen der Ukraine und Russland«, übersetzte die Frau.
»Beende den Krieg in Gaza.«
»Im Namen Jesu.«
In diesem Moment musste ich an Eckhart Tolle denken. Um all diese Kriege zu beenden, müssen sich die Menschen von ihrem Ego-Ich lösen. Erst dann ist eine dauerhaft friedliche Welt möglich.
Der braungebrannte Mann, der den bunten Kreis mit Kreide gezeichnet hatte, war mit seiner Kunst schon viel weiter. Sein Kreis war viel größer und bunter.
»Hey man«, sprach mich sein Kumpel mit den Dreadlocks von der Seite an. Er sah aus, als käme er aus Jamaika. »I saw you before. Whats up?«
Wir klatschten ab.
»Yeah, I was enjoying the painting of your friend«
»Where are you from?«, fragte er mich.
»I live in Hanover but I'm originally from Russia«
»Oh cool. And I'm from Morocco and my friend is French.«
»And what are you doing in Hanover?«
»Just chilling and living here«
Auch sie schienen ein freies Leben zu führen.
»Would you donate for a beer?«
Ich griff in meine Hosentasche und fand eine 2-Euro-Münze, die ich dem Marokkaner für ein Bier gab.
Nach einer Stunde ging ich zurück zum Campus. Der Campus war noch voller Menschen und die Absperrung zur Tanzfläche stand noch.
Ein älterer Mann kommt auf mich zu und fragt, ob ich Moslem sei.
»Das habe ich noch nie gehört. Normalerweise bin ich Spanier«, grinste ich.
Wir haben uns kurz unterhalten. Oder besser gesagt: gebrüllt. Der Mann hörte schlecht und außerdem war die Musik sehr laut, also musste ich ihm alles ins Ohr schreien.
»Ich komme aus Russland.«
»Aus der Türkei?«
»Nein, aus RUSSLAND«, schrie ich noch lauter in sein Ohr.
Er gab mir ein Bier aus. Ich war ein bisschen aufgeregt, weil ich gleich tanzen wollte, also nahm ich sein Angebot an. Er redete mit mir über Fußball und die Europameisterschaft, was mich überhaupt nicht interessierte.
Nach dem Bier verabschiedete ich mich von ihm und setzte mich vor die Absperrung. Ein Student, der neben mir saß, gab mir seine letzte Zigarette. Ich merkte, wie die Aufregung in mir stieg. Die Zigarette half mir, sie etwas zu zügeln.
»Hey, sorry«, rufe ich einem der Organisatoren hinterher, der an mir vorbeiläuft, »wann kann ich auf den Rasen?«
Er dreht sich um und schaut auf die Uhr. »In 10 Minuten wird die Absperrung entfernt.«
In diesen 10 Minuten habe ich mich auf das Hier und Jetzt konzentriert. Ich merkte, wie die Aufregung nachließ.
Ein Mann räumte die Absperrung weg. Aber es lief noch kein Lied, das mir gefiel.
Die Absperrung war weg. Ich mochte die Musik noch nicht. Das Lied, das ich nicht kannte, war zu Ende. Nächstes Lied: Like a G6. Ich stand auf und tanzte mich in die Mitte der leeren Tanzfläche, um die herum Hunderte von Studierenden mit Bechern standen, sich unterhielten oder vor der Tanzfläche saßen.
Ich tanzte und merkte, wie mich alle ansahen. Das war eine unglaubliche Erfahrung. Es war, als würde ich etwas auf der Bühne vorführen.
Nach dem Lied bin ich an den Rand der Tanzfläche gegangen, weil das nächste Lied ein deutscher Rap war, zu dem ich nicht tanzen wollte.
Eine blonde Göttin kam auf mich zu und sprach mich an.
»Du bist ja echt cool drauf«, sagte sie.
»Bist du allein?«, fragt sie mich.
»Ja, ich bin meistens allein. Und du?«
»Ich bin mit Freunden hier, aber ich habe sie verloren. Was studierst du?«
»Ich studiere nicht mehr. Aber ich habe Physik studiert. Und du?«
»Ich studiere noch nicht, aber ich fange nächstes Semester an.«
Ein Lied von Lady Gaga. Mein Körper beginnt sich zu bewegen.
»Ich tanze weiter«, sage ich und winke der Göttin zu.
»Ja, mach das«, grinst sie und winkt zurück.
Nach dem Lied mache ich eine Pause im Schneidersitz neben der DJ-Bühne am Rande der Tanzfläche. Ein großer junger Mann kam auf mich zu und setzte sich im Schneidersitz vor mich.
»Na, wie gehts?«, lächelert er mich an.
»Gut, ich chille mein Leben und wie läufts bei dir?«
»Sehr gut, sehr gut. Wie heißt du?«
»Alexander, und du?«
»Hendrik.«
Wir schüttelten uns die Hände. Er hatte einen sehr kräftigen Händedruck.
»Was studierst du?«, fragte er mich weiter.
»Nichts, aber ich habe Physik studiert. Und was studierst du?«
»Medizin.«
»Oh, ich hätte eher BWL gedacht. Du siehst aus wie ein Hashtag: Nicht Geringverdiener.«
Wir kommen ins Gespräch.
»Wie alt bist du?«, fragt er mich.
»Schätz mal.«
Er schaut mich an.
»Moment mal«, sage ich und massiere mir mit der Hand das Gesicht, um das Dauergrinsen loszuwerden.
»Ich würde sagen 33?«
»Nicht schlecht. Ich werde im Juni 32.«
Ich habe Hendriks Hände gelesen. Er hatte Lufthände, gerade Kopflinie, gerade Herzlinie. Die Schicksalslinie war nur an der rechten Hand ausgeprägt und reichte bis zur Kopflinie.
Nach dem Gespräch ging er weg und ich blieb sitzen, um auf das nächste Lied zu warten. Direkt vor mir tanzten eine Studentin mit Jeansrock und zwei Studenten. Die Studentin tanzte mit dem Rücken zu mir.
Aus dem Schneidersitz konnte ich ihren nackten Hintern sehen. Sie hatte anscheinend kein Höschen an. Ich war wie in Ekstase. Ich bekam einen Ständer, als sie mit ihrem Hintern hin und her wackelte. Irgendwann beugte sie sich vor, und das Bild, das sich mir bot, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich sah ihre rasierten Schamlippen. Mein Penis wurde noch steifer. Ich schloss die Augen, um mich auf die Gegenwart zu konzentrieren und die sexuellen Fantasien mit dieser Studentin zu verdrängen. Das Lied »Rasputin« von Boney M kam. Ich ging auf die Tanzfläche.
Nach einigen Songs waren immer mehr Leute auf der Tanzfläche und ich fiel immer weniger auf. Irgendwann war die Tanzfläche so voll, dass ich nicht mehr frei tanzen konnte. Ich konnte nur an einer Stelle stehen und hüpfen. Das war langweilig.
Ich verließ die Wiese und setzte mich im Schneidersitz auf eine Bank an einem Tisch. Am Himmel türmten sich dunkle Wolken auf. Ich schaute zum Himmel. »Bitte regne«, flüsterte ich vor mich hin.
Ein paar Minuten später fing es an zu tröpfeln, immer stärker. Einige Menschen flüchteten von der Tanzfläche unter die Dächer der Wohnwagen, in denen Getränke verkauft wurden. Andere holten Regenschirme heraus. Eine größere Tanzfläche wurde frei. Ich sprang darauf. Das Lied von SIA, Unstoppable, begann. Ich tanzte, als wollte ich den Regen herbeizaubern.
Leider war der Regen nur kurz. Als er vorbei war, war die Tanzfläche wieder voll und ich setzte mich wieder auf dieselbe Bank vor der Tanzfläche. Ich schaute zum Himmel und sah noch dunklere Wolken auf den Campus zukommen. Ich freute mich darauf.
»Heeey«, rief der junge Mann mit der Brille, den ich vom letzten Mal kannte, »Bist du das?«, er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was?«
»Die Legende vom letzten Jahr?«
Wir klatschen uns ab. »Ach stimmt, wir haben doch zusammen episch getanzt.«
Seine Freundesgruppe gesellte sich dazu.
»Ou ou, die Legende! Bist du das wirklich?«, sagte der hübsche Asiate aus der Gruppe und zückte sein Handy.
Er schaut auf sein Handy und mich an.
»Zeig her«, sagte ich.
Er zeigt mir ein Insta-Reel, wie ich auf dem Rasen abgehe.
»Bist du das?«
»Ja, das bin ich. Aber da hatte ich noch eine Brille und Schuhe an«, grinste ich.
Die beiden Jungs aus der Gruppe machten ein Selfie mit mir und gingen.
Die Tanzfläche war super voll. Ich schloss wieder meine Augen. Mit der inneren Stimme sagte ich »Regne! Regne! Regne stark vom Himmel«
»Hey«, sprach mich jemand an.
Ich öffnete die Augen. Ein junger Mann hockte sich vor mich und sah mich lächelnd an.
»Ich hab dich vorhin tanzen sehen. Du fühlst ja richtig die Musik.«
»Ja. Bei manchen Liedern geht die Musik durch mich durch, da kann ich gar nichts anderes machen, als zu tanzen.«
»Studierst du?«
»Nein, nicht mehr. Und du?«
»Ich bin Klempnerlehrling. Bist du allein hier?«
»Ja. Und du?«
»Ich bin mit Freunden hier, aber ich kann sie nicht finden«, sagt er und schaut auf sein Smartphone, auf dem WhatsApp geöffnet ist.
»Das ist der Vorteil allein zu sein. Man ist auf niemanden angewiesen«, erklärte ich.
»Wie alt bist du?«, fragte er mich.
»Schätz mal.«
Er schaut mich an. Ich versuche wieder mit meinen Händen das Dauergrinsen im Gesicht wegzumassieren.
»26?«
»Oh, krass. Ein anderer hat mich heute auf 33 geschätzt.«
»Und? Liege ich richtig?«
»Nicht ganz. Ich bin 32. Ich würde dich auf 22 schätzen.«
»Nicht schlecht. Ich bin 20.«
Es beginnt zu regnen. Stärker und stärker. Die kalten Tropfen prasseln auf die Menschen nieder und schnell wird aus dem Regen ein heftiger Wolkenbruch.
Der Klempner wird nervös.
»Geil!«, freue ich mich, als ich sehe, dass mehr als die Hälfte der Leute von der Tanzfläche verschwunden ist.
»Ich gehe jetzt tanzen«, sage ich zu ihm.
»Darf ich mitkommen?«, fragt er, während ich ihn ansehe und sehe, wie ihm das Wasser aus den kurzen blonden Haaren ins Gesicht tropft.
»Regen ist gesund. Komm!«
Ich rannte auf die Tanzfläche. Er hinter mir. Es war so viel Platz zum Tanzen.
Ich machte meine Tanzbewegungen.
Er versuchte es mir nachzumachen. »Ich kann nicht so tanzen wie du«, rief er.
»Das brauchst du nicht. Spüre einfach die Musik und bewege dich, wie du willst, ohne nachzudenken«, rief ich zurück.
Seine Tanzbewegungen wurden wilder. Plötzlich standen wir beide im Mittelpunkt. Eine Gruppe, die neben uns tanzte, zückte ihre Handys und filmte uns.
Wir tanzten etwa eine halbe Stunde, bis der Regen aufhörte.
»So eine kurze Pause«, sagte ich zu ihm. Wir klatschten und ich ging zu den Tischen nebenan.
»Wo sind deine Schuhe?«, fragte mich ein Security-Typ.
»Ich habe keine.«
»Dann musst du bitte die Tanzfläche verlassen. Es ist zu gefährlich mit den Scherben.«
»Alles klar, ich bleibe hier am Tisch stehen«, stimmte ich ihm zu, weil ich wusste, dass mit einem Security-Mann zu argumentieren nichts bringen würde.
Zum Glück ging er weiter.
Ich schaue mich um. Ein paar Tische weiter zündet sich eine Mädchengruppe Zigaretten an. Ich klettere über die Bänke und Tische zu ihnen hinüber, leicht gebeugt, wie ein Urmensch.
»Hey Mädels, gebt ihr mir eine Zigarette?«
Erstaunt schauen sie mich an, wie ich vor ihnen auf der Bank hocke und das auch noch barfuß.
»Ja, warte«, sagt ein brünettes Mädchen und holt eine Zigarette und ein Feuerzeug aus ihrer Tasche.
Ich zünde die Zigarette an. »Danke«, sage ich und klettere schnell über die Tische zurück zur freien Bank.
»Junge! Bist du im Dschungel?«, sagt ein junger Mann, der in seinem Addidas-Anzug aussieht wie ein Gopnik.
Ich lachte. »Ja, vielleicht.«
»Warum hast du keine Schuhe? Hier sind überall Scherben«, sagte er und zog an seiner Zigarette. Seine Freunde sahen auch aus wie Gopniks.
»Bist du Russe?«, fragte ich ihn.
»Da, ja russkij«
»Ja tósche«
»Otkúda ty?«
»Iz Rostóva na donú«
»Brat, pótchemu ty bez óbuwi?«
Er fragte mich auf Russisch, warum ich keine Schuhe anhätte. Ich wusste nicht, wie ich ihm das auf Russisch erklären sollte. Und er sah auch nicht so aus, als würde er es verstehen.
Ich kletterte auf den Tisch und tanzte darauf herum.
»Tarzan?« rief ein Mann aus einer Gruppe von Männern auf der anderen Seite des Tisches.
»Tarzan! Du bist mein Vorbild«, rief er weiter.
Wir klatschten uns ab. Er gab mir eine Zigarette.
»Tarzan? Wer ist Tarzan?«, hörte ich seinen Kumpel in der Gruppe fragen.
»Was kennst du nicht Tarzan? Da ist er!«, rief er und zeigte auf mich.
Nach dem Bier musste ich auf die Toilette. In der Toilette stand ein Mann am Pissoir.
»Du bist der Beste hier«, sagt er und sieht mich an, während ich pinkle.
»Danke«, sagte ich, machte den Hosenstall zu und ging weiter tanzen.
Die Zeit verging. Den Rest des Sommerfestes verbrachte ich damit, auf dem Tisch oder daneben zu tanzen und mich auf der Bank auszuruhen.
Es wurde dunkel. Ich saß auf dem Tisch, der wackelte, als säße ich in einer Kutsche auf einem Feldweg. Hinter mir tanzten nämlich Mädchen auf dem Tisch. Meine Augen waren kurz geschlossen. Ich war müde.
»Du siehst so entspannt aus.«
Eine brünette Göttin mit Nasenpiercing stand vor mir und drehte sich eine Zigarette.
»Joa geht so. Kannst du mir auch eine drehen?«, fragte ich.
»Ja, mach ich.«
Sie drehte mir eine Zigarette. Ich steckte sie zwischen die Lippen und sie zündete sie an.
»Wollen wir Freunde sein?«, fragte ich sie und zog an der Zigarette.
»Die Frage habe ich das letzte Mal im Kindergarten bekommen«, lachte sie.
»Ich habe keine richtigen Freunde. Meine Freundschaften halten irgendwie nicht lange.«
Sie schaut mich skeptisch an.
»Ich weiß. Ich bin komisch.«, sagte ich.
Im Gespräch mit Gwenn empfahl sie mir, in Linden zu chillen, da seien mehr Leute wie ich. Sie wollte zu ihren Freunden zurück.
»Kommst du mit?«, fragte sie mich.
»Ne, lieber nicht«, antwortete ich. Ich hatte keine Kraft mich noch mit anderen zu unterhalten. Ich wollte eigentlich nur mit Gwen sein.
Wir umarmten uns lange und sie ging zu ihren beiden Freunden, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Ich tanzte weiter. Zehn Minuten später kam Gwen zu mir.
»Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte sie und kam mit offenen Armen auf mich zu.
»Danke für dein Verständnis«, sagte ich ihr ins Ohr und umarmte sie fest.
Ich zückte mein Handy. Es war schon 23 Uhr. Das Sommerfest ging noch bis Mitternacht. Aber ich war schon kaputt.
Ich schlängelte mich durch den immer noch überfüllten Campus mit bereits betrunkenen Menschen in Richtung Bushaltestelle. Noch zehn Minuten bis der Bus kommt. Ich setze mich im Schneidersitz an die Wand der Haltestelle neben eines nach oben leuchtenden Scheinwerfers. Es war dumm von mir, Gwen nicht zu fragen, ob sie mich mit nach Hause nimmt. Sie war so liebevoll. Am liebsten hätte ich die ganze Nacht mit ihr gekuschelt.
Dann tauchte in meinem Kopf das Bild der Studentin ohne Hösschen auf. Von da an konnte ich nicht mehr aufhören, darüber nachzudenken. Nein. Ich konnte, aber ich wollte nicht.
Diese schönen, glatt rasierten Schamlippen, die unter dem Rock hervorlugten, lösten in mir ein unbändiges Verlangen aus. Die sexuelle Erregung war so stark, dass ich sogar während der Busfahrt eine Erektion bekam. Ich stellte mir vor, wie wir zusammen in den dunklen, menschenleeren Georgengarten nach dem Sommerfest gehen. Wir setzen uns auf eine Bank. Ich öffne meinen Hosenstall und ziehe meinen steifen Penis heraus. Sie zieht unauffällig ihren Rock hoch und setzt sich auf meinen Schoß. Mit sanften Bewegungen vor und zurück, auf und ab, bringen wir uns zum Orgasmus. Ich trage kein Kondom.
Ich bin heute dankbar:
- Dafür, dass ich keinen Kaffee getrunken habe.
- Dafür, dass ich heute zum ersten Mal von 18 bis 23 Uhr barfuß getanzt habe.
- Dafür, dass ich Gwen begegnet bin.